Der Reiz der Langsamkeit – 2011 wurde quer durch alle Genres mit Stille und Entschleunigung experimentiert.


These 1: 2011 wurde quer durch alle Genres mit Stille und Entschleunigung experimentiert. Schuld daran sind The XX, die die neue Ereignislosigkeit vor zwei Jahren eingeführt haben.

Seit ziemlich genau zehn Jahren und wahrscheinlich noch weitere 629 Jahre lang wird in Halberstadt in Sachsen-Anhalt das „langsamste Konzert der Welt“ aufgeführt – auf einer eigens für diesen Zweck angefertigten Orgel in der St.-Burchardi-Kirche. Es handelt sich um die Komposition „Organ2/ASLSP“ des amerikanischen Komponisten John Cage, der die Anweisung gegeben hatte, das Stück so langsam wie möglich zu spielen. Das nächste Ereignis in dieser relativ ereignislosen Interpretation findet am 5. Juli 2012 statt. Dann wird nach elf Monaten der Ton gewechselt.

Anfang 2011 wurden ungefähr zur selben Zeit zwei Alben veröffentlicht, die zwar auf unterschiedliche Weise, aber doch in einer gewissen Seelenverwandtschaft die Ereignislosigkeit in der Musik feierten. Space Is Only Noise von Nicolas Jaar und das Debüt von James Blake. Es geht um den Umgang mit Langsamkeit, Stille und musikalischen Räumen, und die sind bei Jaar und Blake nicht selten spartanisch eingerichtet. Der 21-jährige US-Amerikaner Jaar wird ebenso wie der 23-jährige Engländer Blake der elektronischen Musik, der Clubmusik, zugerechnet. Die zwei Hauptströmungen elektronischer Musik in den 00er-Jahren – Electro Clash/Disco Punk und Minimal Techno – zielten auf Funktionalität ab, four to the floor, voll auf die 12. Wobei der Minimal Techno in seiner Urform eine künstlerische Musik gewesen ist, deren Protagonisten sich durch Reduktion der Gestaltung musikalischer Räume näherten. Elektronische Musik war immer auch Kunstmusik, die in Ambient und seinen Dutzenden Subgenres eine antifunktionale Alternative zur stoisch nach vorne drückenden Kickdrum und dem Gehämmere der Bassline geboten hat. Nur wurden die 2011er Alternativen Nicolas Jaar und James Blake dermaßen als Hoffnungsträger gefeiert, dass sie für einen Moment ihre Kollegen, die mit der grellen Four-to-the-floor-Ästhetik arbeiten, aus dem Fokus gerückt hatten.

Es muss nicht gleich von der neuen Innerlichkeit im Pop gesprochen werden, die vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten durch ein permanentes Lauter, Schneller, Bunter flöten gegangen ist. Aber Stille und Langsamkeit erfordern mehr Aufmerksamkeit vom Zuhörer als Lärm und Schnelligkeit. Erst durch seine Abwesenheit wird das musikalische Ereignis überhaupt als solches erkennbar. Wenn etwa nach einer quälend langen Pause in einem Track von James Blake der Bass einsetzt, kann das als kathartischer Moment empfunden werden. Ein Thrash-Metal-Song, der fünf Minuten lang durchknüppelt, ein harter Technotrack, der sich für eine Viertelstunde allein auf Kickdrum und Bassline verlässt, bietet wenig Überraschendes.

James Blake hat mehrfach die Funktion von The XX als Wegbereiter für seine Musik betont. Die Londoner hätten in ihrem „kompromittierenden, heftigen Minimalismus“ den Schock bei seinen Hörern etwas gemildert. Die vermeintliche Indie-Band The XX wurde 2009 populär, zu einer Zeit, in der Indie schon mausetot gewesen ist. Es kam der alte Mechanismus von der Ablösung eines Trends von dessen Gegenteil zur Anwendung. Den einen gilt das als quasi naturgegebener Effekt in der Popkultur, für die anderen, die Verschwörungstheoretiker, ist es ein von den Medien gesteuerter Prozess. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Mechanismus der Pop-Ökonomie, das Spiel von Angebot und Nachfrage. Die Menschen wollen nicht mehr von dem haben, was im Überfluss vorhanden ist.

Diese Wechselwirkungen sind nicht neu. Der TripHop, der Anfang der 90er-Jahre von Bristol ausgegangen ist – und aktuell ein kleines Revival durch die Studiohintertür mancher Dubstep-Produzenten feiert – war für Menschen gemacht, die genug hatten von Brit-Rave und MDMA. Der Slowcore mit Bands vom American Music Club über Low bis hin zu Radar Bros. war Anfang der 90er eine direkte Reaktion auf die Übermacht des Grunge, der mehr und mehr vom Testosteron gesteuert wurde. Die mainstreamigere Variante des Slowcore – „Quiet Is The New Loud“, benannt nach einem Album der Kings Of Convenience – bot Anfang der 00er-Jahre eine Alternative zum einst großartigen und großmäuligen Britpop, der damals nur noch großmäulig gewesen ist.

Mittlerweile leben ganze Labels wie Planet Mu und Hotflush von dieser neuen Ereignislosigkeit, die manche als die neue Langeweile bezeichnen werden. Bands wie Warpaint und Love Inks erzeugen in direkter Nachfolgerschaft zu The XX mit einer vordergründig unspektakulären Musik spektakuläre Ergebnisse bei ihren Zuhörern – wenn diese sich nur darauf einlassen. Auch der Neo-Goth lebt von seiner Nichtgreifbarkeit durch die Abwesenheit von eindeutigen Codes, die einen Song „rocken“ lassen. Und selbst bei den aktuellen Vertretern des immerwährenden 80er-Jahre-Elektro-Pop-Revivals ist ein Hang zur Subtilität, zum Minimalismus zu erkennen. Acts wie New Look und Class Actress verzichten auf die paradiesvogelhafte Schrillheit der 80er-Jahre-Musik. Das Bindeglied dieser die Musikwelt umspannenden neuen Langsamkeit ist Jamie XX. Seine Arbeiten mit The XX, als Solist – 2011 ist seine erste Solosingle erschienen – und seine Remixe (u.a. für Radiohead, Adele, Gil Scott-Heron und Falty DL), die sich den Luxus leisten, nicht eindeutig der „handgemachten“ oder der elektronischen Musik zuzurechnen zu sein, erkunden den Raum zwischen den Tönen. Und irgendwann werden wir wieder bei John Cage landen. Der ließ 1952 in New York sein Werk „4’33″“ aufführen. Darin war kein einziger Ton zu hören. Der noise war zum space geworden.