Der Festivalsommer: Durch Tocotronic geht ein tiefer Riss
Jan Müller erklärt, warum Tocotronic dieses Jahr keine Konzerte spielen.
Fragt ihr euch in diesen letzten Festivalwochen, wo Tocotronic waren? Die Antwort lautet: Im Jahr 2024 werden wir exakt null Klubkonzerte und ebenso viele Festivals spielen. Diesen Luxus muss man sich alle zehn Jahre mal gönnen, sonst ist es vorbei mit der eigenen Würde. Es tut nicht gut, immer zu tingeln. Auch wenn uns Meta, ByteDance und all die anderen Hamsterrad-Konzerne fortwährend zu suggerieren versuchen, dass es keine Pause geben darf. „Untätigkeit verlangt ein starkes Selbstbewusstsein.“ Das sagte Robert Louis Stevenson. Immerhin einer meiner Lieblingsschriftsteller. Nein, besser gesagt: immerhin der Verfasser von „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Ich finde, das sollte wirklich jeder Mensch gelesen haben. Und wenn ihr zu faul zum Lesen seid, dann schaut euch wenigstens die allerbeste Verfilmung dieser Novelle an: „Das Testament des Dr. Codelier“ von Jean Renoir. Aber das ist ein anderes Thema.
Ich wollte ja eigentlich berichten, dass wir mit Tocotronic in diesem Jahr keine Konzerte spielen. Das verschafft mir Zeit, stramme fünf Wochen in den Urlaub zu fahren; natürlich nach Italien. Eigentlich ist dies das einzige lohnende Urlaubsland. Letztes Jahr waren wir in Dänemark. Auch ein gutes Land. Aber es ist doch wirklich unsinnig im Urlaub zu frieren. Kälte und Regen kann ich dann ja noch im nächsten Jahr bei der dann folgenden Festivalsaison ertragen. Ein wenig schade finde ich es ja schon, dieses Jahr bei den Festivals gar nicht mit dabei zu sein. Gerne schau ich mir dort die megaberühmten Bands an, deren Namen klingen wie die Titel in der Fantasy-Sektion im Sortiment der Bahnhofsbuchhandlung; und ich liebe es, mich über deren Auffassungen von Musik zu wundern.
Wir Tocos reisen in der Singledecker-Variante. Das ist für uns nicht ehrabschneidend.
Ich beobachte fasziniert die angespannten Sänger, die bestimmt auch fabelhafte Animateure in einem Ferienclub geworden wären. Außerdem freue ich mich, mir zu überlegen, was wohl in all den riesigen Trucks hinter der Bühne verstaut ist. Und ich wünsche mir, auch so einen großen Truck für unsere Band zu haben. Wir würden ihn nutzen, um unsere Stofftiere mitzuführen. Anstatt zu spielen, würden wir dann für die Dauer unseres Auftritts unser Publikum mit unseren wundervollen Plüschtieren bewerfen. Das wäre unsere Form der Animation. Vielleicht wird das nicht für immer ein Traum bleiben. Wir waren sogar schon mal mit einem Stagetruck unterwegs. Der war aber frei von Stofftieren und stattdessen bis unters Dach mit Licht-Equipment beladen. Obwohl es meistens noch hell ist, wenn wir auf Festivals spielen. Immerhin sind wir seit Jahren fast immer mit einem Nightliner unterwegs. Das ist ein Bus, in dem man nachts reist und in dem man währenddessen schlafen kann. Wir Tocos reisen in der Singledecker-Variante. Das ist für uns nicht ehrabschneidend.
Im Jahr 2011 warf mir ein Musiker einer bekannten Rap-Gruppe einen abschätzigen Blick zu, als er mich aus unserem Singledecker steigen sah. Dann stieg er in seinen auf Hochglanz polierten Doubledecker mit Hänger. Ich habe es ihm gegönnt. Ich bin ja froh, mich überhaupt mit dem Reisen im Nightliner angefreundet zu haben. Die ersten 20 Jahre unserer Bandgeschichte sind wir nur dann in ein solches Ungetüm gestiegen, wenn es wirklich nicht anders ging. Zum Beispiel die Hurricane-Southside-Rutsche (übrigens gehört die Person, die sich die Vokabel „Rutsche“ für Konzertabfolgen ausgedacht hat mit einem verächtlichen Blick bestraft). Die Fortbewegung im Nightliner erschien uns damals wie ein Aufenthalt im Tartaros: keine Privatsphäre, unausweichliche Gruppendynamiken, Partyzwang etc. pp. – das wäre ja alles noch erträglich gewesen. Aber weshalb soll man durch ein winziges Land wie Deutschland von Bietigheim-Bissingen nach Tuttlingen nachts mit einem Bus fahren?
Durch unsere Band geht ein tiefer Riss
Das ergibt vermutlich in Amerika Sinn oder wenn man auf Europatour ist. Aber auf einer mickrigen Deutschland-Konzertreise? Wir zogen es daher vor, mit einem Neun-Sitzer von Goliath oder Nopper tagsüber die Autobahnen und Landstraßen zu befahren. Allerdings begann ich irgendwann zu schwanken. Ich merkte, dass man in diesen Nightliner-Kojen wunderbar liegen kann und sich zum Beispiel alle Folgen des „Literarischen Quartetts“ anhören kann. Und außerdem ist man so herrlich erledigt von diesem nächtlichen Geholpere. Die Nightliner schütteln uns Musikanten in einen die ganze Tour währenden Halbwachzustand. Man braucht keine kostspieligen Drogen und keinen gefährlichen Alkohol mehr, um in den Rock-and-Roll-Modus zu gelangen.
Ergo: Ich liebe mittlerweile das Nightliner-Fahren! Durch unsere Band geht ein tiefer Riss. Wir bestehen aus 50% Nightliner-Fans und 50% Nightliner-Skeptikern. Das belebt immerhin die Bandkommunikation. Irgendwann, wenn ich bereits das Ulmer Münster bestiegen oder das Robert-Musil-Haus in Zeitlupe besichtigt habe, kommen die beiden Zugfahrer an und berichten von ihrer Reise. Gut, dass die Deutsche Bahn immer wieder Stoff für spektakuläre Schilderungen liefert. Beim Schreiben merke ich, ich freue mich schon sehr auf den Festivalsommer 2025!
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 09/2024.