Depeche Mode
Zimmer mit Aussicht ist obligatorisch, ebenso eine offene Balkontür – mag es draußen noch so kalt sein. Schließlich hat Dave Gahan in der Vergangenheit genug Zeit allein in dunklen Räumen verbracht. Der 34jährige Sänger von Depeche Mode mutierte in den letzten Jahren zum Rockmonster: Schlägereien, ein Selbstmordversuch mit aufgeschnittenen Pulsadern, eine Überdosis Heroin, die ihn um ein Haar umgebracht hätte – Gahan ließ nichts aus. Inzwischen sieht der Mann wieder erstaunlich fit aus. Die Haare sind auf Kinnlänge zurückgestutzt, das Ziegenbärtchen unter der Lippe ist adrett geschnitten. Lediglich seine Füße irritieren beim Interview in der Suite des zum Luxushotel umgebauten Kölner Wasserturms: Quietschgrüne Socken mit cremefarbenen Loafers können Menschen, die Gahans Beine bislang hauptsächlich aus den schwarzweißen Videoclips von Anton Corbijn kennen, schon überraschen. Eine große Kanne Kaffee und eine Schachtel Marlboro Medium gehören zum Interview am Morgen ebenfalls dazu. Dave Gahan sieht gesund aus, nur sehr, sehr müde. Guten Morgen Dave. Gut geschlafen?
Nein, nicht wirklich. Die Nacht war sogar ziemlich schrecklich. Ich konnte bis ungefähr sechs Uhr morgens kein Auge zu tun. Ich habe es dann mit Yoga versucht, um mich zu entspannen. Anschließend habe ich eine Zigarette geraucht und einige Leute in L.A. angerufen. Schließlich bin ich doch noch eingeschlafen und hatte diesen merkwürdigen Traum: Zwei Leute verfolgten mich, und ich rannte vor ihnen davon. Weißt du, es war einer dieser Flugträume. Aber gerade als ich in der Luft war, bin ich aufgewacht, und das hat mich wirklich angepisst. Ich wollte zurück zu meinem Traum.
Klingt aber nicht gerade nach einem angenehmen Traum.
Mmh, a. Hätte ich noch mein Traumdeutungsbuch, könnte ich ja mal nachsehen, was es bedeutet. Aber ich habe es an irgendjemanden verschenkt. Soweit ich weiß, sind Flugträume aber generell eher etwas Positives.
Bis vor wenigen Wochen hatte kaum einer damit gerechnet, daß Depeche Mode überhaupt noch mal ein Album veröffentlichen würden.
Eine Zeitlang dachten wir das selber nicht. Zumindest gab es Momente, in denen die Beteiligten für die Gruppe keine Zukunft mehr sahen.
Wann hattest du zuletzt das Gefühl, daß es aus wäre mit Depeche Mode?
Das war, als ich dachte, daß es mit mir vorbei sei. Als ich Ende Mai letzen Jahres eine Überdosis im Leib hatte, wollte ich wirklich sterben, und ich war ja auch für einige Momente tatsächlich tot. Mein Herz hatte für zwei Minuten ausgesetzt. Doch dann brachten mich die Ärzte zu den Lebenden zurück. Danach mußte ich für einige Tage ins Gefängnis – wegen Kokainbesitzes.
Wie hast du es geschafft, danach wieder im Studio zu arbeiten?
Ich habe noch einige Zeit dazu gebraucht. Zunächst mußte ich natürlich erst mal clean werden. Das Problem war ja auch, daß ich zuvor bei den Aufnahmen in New York, im Frühjahr letzten Jahres, nur die Vocals zu ‚Sister Of Night‘ einsingen konnte. Man darfauch nicht übersehen, daß es innerhalb der Band mit den Jahren immer schwieriger wurde. Wenn du dich so gut kennst, wie das bei uns dreien mittlerweile der Fall ist, besteht die Gefahr, daß aus kleinen Anlässen große Streitereien werden. Außerdem haben wir alle unterschiedliche Interessen außerhalb der Band, Familien und so weiter. Und schließlich wird viel Zeit damit verbracht, bestimmte Dinge wieder in die Reihe zu bekommen.
Zum Beispiel die Rollenaufteilung in der Band?
Richtig, aber die Rollen sind genau verteilt. Andy Fletcher ist für die organisatorischen Dinge verantwortlich, Martin Gore schreibt die Songs, und ich singe sie. Außerdem arbeiteten an der neuen CD auch Tim Simenon von Bomb The Bass und einige andere Leute mit. Tim spielte dabei eine wichtige Rolle. Er nahm den Platz ein, den Alan Wilder sonst hatte. Und zu Martin: Ich glaube, er hat diesmal härter im Studio gearbeitet als üblich, weil sonst niemand da war, der es hätte machen können.
Du hast mal gesagt, daß die Aufnahmen zu eurem letzten Studioalbum ‚Songs Of Faith And Devotion‘ eine Therapie für dich waren. Gilt das auch für euer neues Album ‚Ultra‘?
Ja, ganz bestimmt. Es hat mir Halt und ein Ziel gegeben, und das war sehr wichtig für mich, vor allem nach meinem Aufenthalt in der Entzugsklinik. Außerdem war es ein beflügelndes Gefühl für mich zu merken, daß ich ohne Heroin und andere Drogen in der Lage bin zu singen.
Fällt es dir mittlerweile leichter, über deine Heroin-Zeit zu sprechen?
Anfangs dachte ich, es sei eine gute Idee, darüber zu sprechen. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Eigentlich bereue ich, je darüber gesprochen zu haben. Zumindest mit der Presse. Ich hätte von Anfang an sagen sollen: Darüber spreche ich nicht. Das ist meine persönliche Angelegenheit. Ich habe ja nichts davon. Ich muß mich nur ständig rechtfertigen und versuchen, Leuten etwas zu erklären, das sie eh nie verstehen werden. Über meine Probleme kann ich mich besser mit Freunden oder anderen ehemals Abhängigen unterhalten. Dazu brauche ich keine Journalisten. Nach Interviews spüre ich eine eher noch größere Last auf meinen Schultern. Es ist nicht gut für mich, ständig über diese dunkle Seite zu sprechen. Die Leute sollten sich lieber auf postive Dinge konzentrieren.
Zum Beispiel darauf, daß du heute wieder clean bist?
Ich nehme seit acht Monaten keine Drogen — keinen Alkohol, keine Pillen, nichts. Nur Zigaretten. Und acht Monate sind eine lange, lange Zeit für eine )unkie, der über so einen großen Zeitraum hinweg täglich seinen Stoff genommen hat.
Was hat dich am Rock’n’Roll-Lifestyle so fasziniert, als du 1991 nach Los Angeles gegangen bist? Die Veränderung war ja durchaus erkennbar. Du hast dir die Haare wachsen, dich tätowieren und piercen lassen. Am Ende dann auch noch der Griff zum Heroin.
Es war weniger die Faszination des Rock’n’Roll als Liebe. Ich hatte mich in eine Frau verliebt, und sie hat mich in diesen Rock’n’Roll-Lifestyle eingeführt. Ich möchte die Schuld nicht von mir weisen, aber sie hat mich in diese verdammte Drogenszene eingeführt. Und außerdem haben mich damals bestimmte Bands sehr interessiert. Jane’s Addiction, Alice In Chains und so weiter. Das war alles sehr aufregend und neu für mich. Depeche Mode hat im Laufe der Jahre einen ganz eigenen Sound kreiert. Hat das den Vorteil, daß ihr euch nicht mit anderen Gruppen vergleichen lassen müßt? Ja, wir hatten das Glück, daß wir unsere eigene Nische entdeckt haben. Dadurch gibt es natürlich auch weniger Druck. Die einzige Meßlatte sind wir selbst. Aber ich denke, auch wir selbst können uns zu stark unter Druck setzen. Der Erfolg von ‚Violator‘ (1990; Anm. d. Red.) war auf jeden Fall zuviel für uns.
Und was erwartet ihr nun von ‚Ultra‘, der neuen Platte?
Wir wollen natürlich, daß das Album erfolgreich wird, weil wir von seiner Qualität überzeugt sind. Aber wir wollen uns dabei auch wohlfühlen. Wenn wir am Ende des Jahres zurückblicken, wollen wir sagen können, daß 1997 ein gutes Jahr war. Martin und Andy werden sich jetzt erst mal um ihre Familien kümmern, und ich muß mir eine neue das me sounds interview)
Denn in LA. bist du ziemlich isoliert, wenn du nicht gerade mit den Glamour-Leuten zu tun hast. Und zu denen hatte ich eh keinen Kontakt. Es gibt dort nicht viel Kommunikation oder Interaktion zwischen den Menschen. Ich kannte zum Beispiel in all den Jahren, die ich in Los Angeles gelebt habe, nicht einmal meine Nachbarn. In New York hingegen brauche ich nur in die U-Bahn gehen und habe Leute um mich herum.
as Fährt Dave Gahan mit der U-Bahn?
Klar, warum nicht? Ich glaube, es tut mir ganz gut, wenn ich aus meiner Isolation wieder herauskomme. Wenn ich allein bin, fühle ich mich gleichzeitig wohl und einsam. Aber ich habe mich so an dieses Gefühl gewöhnt, daß es mir normal erscheint. Ich muß also versuchen, wieder mehr mit anderen Leuten zu sprechen, selbst wenn es nur ein paar Minuten am Telefon sind. So etwas habe ich jahrelang überhaupt nicht gemacht.
Hast du Freunde in New York?
Ja, jetzt schon, und sie sind Gott sei Dank alle clean. Viele kenne ich noch von früher. In Los Angeles hatte ich nur mit Leuten zu tun, die Drogen genommen haben und deren Leben sich ausschließlich um das Beschaffen von Drogen drehte. Mit denen habe ich jetzt nichts mehr zu tun. Und auch zu meiner Ex-Frau Theresa habe ich seit einem Jahr keinen Kontakt mehr. Werdet ihr wieder Konzerte geben?
Ja, aber nicht dieses Jahr. Vielleicht nächstes Jahr. Es hängt davon ab, wie wir uns fühlen. Wir müssen mental bereit dazu sein. Mit mir geht es wieder aufwärts, wie gesagt. Ich bin seit acht Monaten clean, aber es braucht noch eine lange Zeit, bis ich mich als geheilt betrachten kann. Wir wollen es langsam angehen lassen.
Aber ihr hättet nichts gegen eine Welttournee?
Doch, so eine Mammuttour werden wir nicht mehr machen. Da müssen wir uns einschränken. Ich glaube, mehr als 70 oder 80 Konzerte werden wir nicht mehr geben. Aber wir lieben es, live zu spielen, zumal vor unserem großartigen Publikum. Tourneen machen uns wirklich Spaß.
Ist das dein Ernst? Zur Erinnerung: Zur letzten Tour seid ihr mit einem Psychiater und einem „spirituellen Berater“ angetreten. Ihr hattet getrennte Umkleideräume und getrennte Limousinen. Martin erlitt mehrere Schlaganfälle, Alan bekam Gallensteine, Andy hatte einen Nervenzusammenbruch, verließ schließlich die Tour. Und deine persönliche Bilanz belief sich auf eine Herzattacke und zwei gebrochene Rippen. Ist das deine Definition von Spaß?
Nein, keine Frage. Und das war die ganze Sache auch nicht wert. Aber genau deshalb bleiben wir ja auch erst mal zu Hause und gehen, wenn überhaupt, später auf eine kleinere Tour — jedenfalls nicht auf eine Mammutreise wie zu ‚Songs Of Faith and Devotion‘. So eine Tour ist für keine Gruppe gesund, wenn sie gerade aus dem Studio kommt. Vielleicht ist es dir schon aufgefallen:
U2 stecken gerade in der gleichen Situation wie wir damals. Ich bin gespannt, wie sie damit fertig werden.
Hattest du seit der 94er-Tour Kontakt zu Martin und Andy?
Nicht wirklich. Aber das liegt an uns allen. Die anderen haben sich bei mir nur gemeldet, wenn ich mich mal wieder verletzt hatte und darüber berichtet wurde. Und ich habe auf diese Anrufe auch nicht weiter reagiert, weil ich so unter Drogen stand. Außerdem hat man unterschiedliche Freunde für unterschiedliche Dinge. Und ich war schon immer eher ein Eigenbrödler.
Auch Alan Wilder gilt als Einzelgänger. Im Juni 1995 verließ er nach 13 Jahren eure Band, weil er es innerhalb der Gruppe einfach nicht mehr aushielt. Hätte die Band auch weitergemacht, wenn statt Alan ein anderer ausgestiegen wäre? Nein, wohl nicht. Martins Songs und meine Stimme sind die zentralen Bestandteile von Depeche Mode. Ohne eines von beiden würde es uns vermutlich nicht geben. Und Andys )ob ist es, alles zusammenzuhalten. Außerdem sind Andy und Martin sehr enge Freunde. Ich glaube nicht, daß der eine ohne den anderen weitergemacht hätte.
Und wie geht’s jetzt weiter mit euch? Ich weiß es nicht. Vielleicht wird dies unsere letzte Platte sein, vielleicht auch nicht. Momentan machen wir keine große Pläne. Wir sind erst mal froh, daß wir die letzte Zeit überstanden haben.