Kolumne

„Das lässt sich nie wieder umkehren“ – Linus Volkmann über früh verstorbene Musikikonen


Wie lebensgefährlich ist Ruhm? Linus Volkmann trifft den Autoren des Buchs „Schlussakkord“. Ruhet in Frieden – vorher wird’s aber noch mal laut.

Wenn ich koche, höre ich gern Podcasts. Das gefällt mir so gut, das beruhigt mich so sehr, ich ziehe den Prozess des Schneidens, Erhitzens und Kochweintrinkens mitunter mutwillig in die Länge. Oft so sehr, dass immer wieder diese eine Frage aufkommt, die vermutlich viele kennen: „Und was höre ich jetzt als nächstes?“ Don’t judge me, aber manchmal, wenn mir nichts einfällt, kann die Antwort auch lauten: „Verbrechen“. Der True-Crime-Podcast von „Zeit“ mit den beliebten Actionhelden des mordlüsternden Bürgertums: Sabine Rückert („Mein Mann ist Architekt!“) und Andreas Sentker – okay, seit neuestem sind da (auch) noch zwei andere am Werk – aber deren Namen merke ich mir erst, wenn es gar nicht mehr anders geht!

Beginnt jedenfalls der Jingle von „Verbrechen“ fühlt es sich heimelig an. In einer Folge ködert Sabine Rückert ihr Publikum dann sogar mit der Ankündigung, dieses Mal werde wieder „ein saftiger Mord“ verhandelt. Puh, wie ungut. Das Drama anderer Leute als süffige Unterhaltung zum Feierabend? Ich weiß, die totale menschliche Verwahrlosung (AfD wählen zum Beispiel) scheint mittlerweile kein gesellschaftliches Tabu mehr, dennoch fällt für mich persönlich dieser „True Crime“-Hype immer noch unter die Kategorie „Guilty Pleasure“.

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Ähnlich angefasst von meiner eigenen Ambivalenz war ich dann auch, als mir der Autor und Kollege Ingo Scheel sein jüngstes (und erstes) Buch zukommen ließ: „Schlussakkord – Wie Musiklegenden für immer verstummten“ (Ventil Verlag). Ein Sammelband über lauter tragische, tödlich geendete Biographien mit Popbezug? Natürlich interessiert mich das. Doch Ingo Scheel macht es den Lesenden leicht, sich eben nicht als voyeuristische Katastrophentouristen zu fühlen. Er erzählt klar und prägnant – aber auch immer auch sensibel. Empathie ist hier wichtiger als Aufkratzen. So vertraut man sich diesem Buch gern an und wird in „Schlussakkord“ durch viele Fakten und Anekdoten geleitet, die man so dann doch nicht präsent hatte. Selbst wenn einem die meisten der Künstler:innen in diesem Buch vertraut sein dürften: Nico, Amy Winehouse, Whitney Houston, Scott Weiland, Kurt Cobain, Bob Marley und viele andere.

Allerdings stellt sich mir beim Lesen die Frage, wie kann man bloß so viel über den Tod schreiben, ohne selbst ein wenig zum Friedhof zu werden? Ich habe mich daher direkt an den Autoren gewandt.

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Der vorzeitige Rockstar-Tod besitzt neben all der Tragik auch offensichtlich eine Faszination. Dein Buch ist ein Zeugnis davon. Wie lässt sich das erklären?

INGO SCHEEL: Das habe ich mich beim Schreiben auch immer mal wieder gefragt. Ein früher Tod als vermeintlich glamouröser Schritt in die Unsterblichkeit, so etwas hat die Menschen ja irgendwie schon immer interessiert, nicht nur in der Musik, spätestens seit es eine Art Entertainment-Industrie gibt. Nimm’ jemanden wie James Dean, da ist es ja ähnlich. Zum einen hat es etwas Morbid-Romantisches, gleichzeitig ist da immer dieser Gedanke: Was wäre, wenn? Welche Musik würde Lennon heute wohl machen? Ob Cobain immer noch in Chucks laufen würde und Whitney wieder die hohen Töne treffen?

Konntest du beim Schreiben die Distanz immer wahren – oder hat dich die Beschäftigung mit dem Sterben nicht auch angefasst in dieser Verdichtung?

Das erwischt einen immer mal wieder, gerade wenn man sich so in der Endphase des Buches oder später auch beim Einlesen des Hörbuchs nochmal ganz komprimiert damit beschäftigt. Da dachte ich schon mal, boah, die ganzen Toten, das ist zu hart. Dabei macht es wenig Unterschied, ob es jemand wie Darrell Banks ist, mit dessen Geschichte ich mich erst beschäftigen musste, oder Leute wie Kurt Cobain, deren Geschichten ich als Nirvana-Fan praktisch in Echtzeit miterlebt und betrauert habe. Als Fan ändert sich damit die gesamte Statik deiner Plattensammlung.

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Natürlich denkt man auch ans eigene Umfeld, ich habe selbst Freunde verloren, mit denen ich in Bands gespielt oder zusammen aufgelegt habe. Das gibt dem schweren Verlust einer Freundschaft noch so eine merkwürdige Metaebene, da endet auf gewisse Weise noch viel mehr. Die Musik klingt anders danach, die Texte hören sich plötzlich anders an. Das ist wie in einem Gruselfilm, wenn die Zeiger der großen Standuhr auf einmal stehen bleiben. Der Luftdruck ändert sich, das lässt sich nie wieder umkehren.

Deine Art zu schreiben, findet die Linie zwischen Lockerheit und Respekt – war das einfach für dich oder musstest du erstmal einiges ausprobieren, um eine gleichsam dynamische aber dennoch pietätvolle Haltung zu den Texten zu finden?

Ich habe tatsächlich einige Kapitel gebraucht, um mich da zu finden. Anfangs war ich vielleicht etwas zu sachlich unterwegs, ich wollte auf keinen Fall eine Sensationsnummer draus machen, sowas wie die x-te „Club 27“-Erzählung, auch wenn sie das in Teilen natürlich ist. Gleichzeitig soll das Buch natürlich unterhalten, es hat ja mit dieser Art Cliffhanger zwischen den Kapitel schon so einen Pulp-Touch. Mir gefiel diese Idee des Durchschmökerns, dass man denkt, okay, ein Kapitel noch. Und dann vielleicht noch eines. Mit Bezug auf das Die-Liga-der-gewöhnlichen-Gentlemen-Zitat am Anfang des Buches, dass ein „R.I.P.“ nicht reicht, ging es mir darum, eben nicht nur auf das Ende zu schauen. Jeder weiß, dass Amy ordentlich Durst hatte, und vielleicht noch dass Marvin Gaye von seinem Vater erschossen wurde und bei Michael Hutchence ein Gürtel im Spiel war, für mich war es wichtig, auch deren Werdegang, deren Geschichte zu erzählen.

Ingo Scheel (Foto: Bernd Jonkmanns)

Was ist eine Anekdote, die man in „Schlussakkord“ über verstorbene Musiklegenden findet und die du auch mal abends an der Bar erzählen würdest, weil sie so interessant oder unglaublich ist?

Also, die Tatsache, dass der Kran den Bus, der auf dem armen Cliff Burton liegt, erst hochhebt und dann aus Versehen nochmal fallen lässt, das ist schon harter Tobak. Das erinnerte mich fast an Dennis Hopper in „Das Messer am Ufer“, wie er erzählt, dass bei einem Motorradunfall ein Bein verliert und vom Straßengraben aus dieses Bein auf der Straße liegen sieht: „Dann kam der Krankenwagen und fuhr nochmal drüber.“ Unglaublich ist die Story um Harry Nilsson, Mama Cass und Keith Moon, ohne das hier zu spoilern. Und wenn in der besagten Bar ordentlich Hartgas fließt und schon ein paar Stunden am Glas gearbeitet wurde, dann ist GG Allin natürlich auch ein Thema, das eine Menge Verstörendes bietet.

Heute durchdringt das Thema Mental Health die Erzählungen von und über Musiker:innen. Was denkst du, ist es heute sichererfür die Acts? Der toxische Einfluss von Öffentlichkeit und Medien wie beim Tod von Amy Winehouse schiene mir heute jedenfalls nicht mehr in der Form möglich. Oder haben sich die potenziellen Kill-Screens letztlich doch nur verlagert?

Also, was die Sozialen Medien angeht, kann ja potentiell jeder wie ein Reporter von der „Sun“ oder der „Bild“ agieren. Wenn heute ein Promi bei einer Kneipentour abstürzt wie, sagen wir mal, Amy Winehouse, davon ein Bild auf Facebook auftaucht, dann weißt du, was in den Kommentaren los. Gleichzeitig wird so etwas mentale Gesundheit beziehungsweise die Probleme damit, natürlich auch zunehmend thematisiert, rückt dadurch ins öffentliche Bewusstsein. Drüber reden ist immer gut.

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Wenn ich heute mit Grian Chatten von den Fontaines D.C. zusammensitze, er mir von seinen Panikattacken erzählt und wie ihm die Medikamente helfen und die Musik, dann ist das auch ein Anzeichen dafür, dass die Dinge sich zum Besseren gewendet haben, allein schon weil dafür eine Öffentlichkeit geschaffen wird. Ob es das Business deswegen „sicherer“ macht? Schwer zu sagen. In gewisser Weise gehört es ja dazu, ein bestimmtes Risiko, der Reiz des Ungewissen. Klar ist das schön, wenn man sagt, hey, der oder die da oben, ist doch einer von uns. Gleichzeitig ist es aber auch der bestimmte Kitzel zu wissen, dass diese Leute eben dort hingehen, wohin Normalsterbliche sich nicht trauen. Und das wiederum kann jederzeit gefährlich werden.

Schlussakkord, jetzt aber wirklich

So und hier zum Abschluss noch eine saftige Liste, mit den besten Leichen im Popbetrieb! Um Himmels Willen … Ich bin doch nicht Sabine Rückert. Allerdings möchte ich die Kolumne nicht schließen ohne ein wenig Musik – das wäre mir dann doch zu düster und meine Goth-Phase ist vorbei. Hier drei Musiker:innen, die ebenfalls früh verstummten, zwar nicht in „Schlussakkord“ auftauchen, mir persönlich aber etwas bedeutet haben. Das sei natürlich auch als Anregung zu verstehen, dass hier ein weiterer Teil durchaus noch Material hätte. „Leider“ muss man hinzufügen. Rest in peace, Leute!

Lil Peep (1996 – 2017)

„Cry Alone“

Ganz tolles Stück, das verspulten wolkigen Trap mit einem Kurt-Cobain-Feeling zusammenbringt.

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Kemistry (1963 – 1999)

„Signature“

Zusammen mit Storm stellte Valerie Olukemi A Olusanya, alias Kemistry, das vielleicht einflussreichste DJ-Duo unter der weit gefassten Dachmarke Drum’n’Bass dar.

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Dieter „Otze“ Ehrlich (1963 – 2005)

„Satan“

Zum Punkvermächtnis von Stotternheim (Erfurt) gehört die tragische Story von „Otze“ Ehrlich. Unlängst die sehr starke Doku von Jan Heck dazu gesehen. Auch eine große Empfehlung. Zu ihm und seiner Band Schleim-Keim existiert darüber hinaus eine eigene Biographie unter dem Titel „Satan, kannst du mir noch mal verzeihen“ von Anne Hahn und Frank Willmann (ebenfalls Ventil Verlag).

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Bernd Jonkmanns
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