„Dark“ auf Netflix: 7 von unzähligen Fragen und Eindrücken, die wir zur 2. Staffel haben
Zeitreise-Dystopie und Familiendrama: Die zweite Staffel der deutschen Mysteryserie „Dark“ kommt noch unheilvoller, symbolischer und pathetischer als die erste daher – noch packender und hirnfickender ist sie aber auch geworden.
Seit Freitag ist sie da, die zweite Staffel der ersten deutschen Netflix-Serie „Dark“. Sie dürfte, so viel kann man jetzt schon sagen, mehr noch als die erste ein weltweiter Erfolg werden: Es geht um verschwundene Kinder, Zeitreisen, zerrüttete Familien, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmende Teenager, dunkle Materie, Atomkraftwerke, gelbe Regenjacken wie in „Es“, eine Armee Aussätziger, 80s-Memorabilia und die Frage nach dem Sinn. What more could you ask for? „Dark“, erfunden von Baran bo Odar und Jantje Friese, steht auch sonst einer internationalen Produktion in nichts nach, obwohl die Settings unverkennbar deutsch sind. Das Betonklotz-Gymnasium! Die Bushaltestelle mit dem Helmut-Kohl-Plakat! Der Kleinstadt-Mief!
Die schlechte Nachricht: Dialoge und Aussagen sind noch immer so bedeutungsschwanger, wie in der ersten Staffel. Small Talk, Alltag und Leichtigkeit sucht man hier vergebens, keiner hat jemals was zu lachen. Die gute Nachricht: Es regnet nicht mehr in einer Tour, manchmal scheint sogar die Sonne – und die bisweilen von Pathos überzogenen Sätze, die in jeder der acht Folgen da so fallen, sind halt wirklich alle sehr wichtig und berechtigt, um das immer umfassender werdende Mystery-Konstrukt auch nur ansatzweise zu verstehen. Falls es beim Thema „Zeitreisen“ überhaupt etwas zu verstehen gibt. Fans von „Stranger Things“, „Lost“ und ja, auch „Zurück in die Zukunft“ werden garantiert auf ihre Rätselkosten kommen.
Man kann unmöglich detailliert über die zweite Staffel „Dark“ sprechen oder schreiben, ohne massive Spoiler in die Welt zu setzen. Deshalb nur so viel an ersten gesammelten Eindrücken und Fragen zur 2. Staffel „Dark“:
Den nervigen Sci-Fi-Horrorsound hat „Dark“ definitiv von seinem Vorbild „Lost“ geklaut
Immer dann, wenn etwas besonders Mysteriöses passiert, setzten bei JJ Abrams‘ und Damon Lindelofs Mystery-Klassiker „Lost“ (2014-2010) die Tonleiter hinab dröhnende Bläsersounds ein:
Die Soundcrew von „Dark“ macht sich dieses in Varianten klassische Horror-Thema des sog. Bass Drops zu eigen und platziert an jeder geheimnisvollen Stelle der Serie diesen Effekt, der klingt, als würde ein Streicherensemble seinen eigenen Sturz in eine tiefe Schlucht vertonen. Gefühlt jede Minute.
https://www.youtube.com/watch?v=cf6S-uErp2M
Und wer jetzt fragt: Meine Güte, diese Effekte werden in jedem Sci-Fi-Thriller dieser Welt benutzt, was soll das mit „Lost“ zu tun haben? Naja, die „Lost“-Referenzen sind in „Dark“ halt omnipräsent. Dürfte kein Zufall sein, dass etwa dem geheimnisvollen Pfarrer Noah (Mark Waschke) eine ähnliche heils- oder gefahrbringende Rolle zu teil wird wie die des Jacob (Mark Pellegrino) in „Lost“ (die Bibelnamen!). Oder dass plötzlich irgendwo schwarzer Rauch aufsteigt. Oder dass es Höhlen gibt, in denen Unerklärliches passiert. Oder dass Zahlen und Daten (4 8 15 16 23 42 vs. 21. Juni 2019, dem Startdatum der zweiten Staffel; der 33-Jahres-Zyklus) so eine wichtige Rolle spielen. Oder oder oder.
Zeitreisen ist heikel
Bei „Zurück in die Zukunft“ hatte ich gelernt, dass man auf keinen Fall sein eigenes Ich treffen dürfe. Bei „Dark“ passiert das in einer Tour ohne wirkliche Konsequenzen. Was soll ich denn nun bitte glauben über Zeitreisen? Gut, dem Körper und der Seele schadet das Rumgehopse in „Dark“ dafür durchaus.
Ihre Überlegungen zur Zeitreise-Grundfrage „Determinismus oder freier Wille“ führen die Showrunner hier aus:
https://www.youtube.com/watch?v=scFjLF2y6VM&feature=youtu.be&t=218
Zeitreisen ist kein Spaß
Was ich auch in „Zurück in die Zukunft“ gelernt hatte: Zeitreise ist lustig. Man kann seinen Vorfahren Chuck Berry näher bringen! Man kann seinen Erzfeind ärgern! Man kann sich selbst empowern! „Dark“ aber hat mir Zeitreisen nun endgültig madig gemacht. Keiner hat Spaß dabei, jedem passiert ständig nur Scheiße, und wirklich was verändern kann man offenbar auch nicht. So hatte sich mein jüngeres Ich das nicht vorgestellt!
Würde ich zum Beispiel 66 Jahre in die Vergangenheit reisen, um von dort aus 33 Jahre in der Psychiatrie auf meinen zeitgereisten Sohn zu warten, um mit ihm aus der jüngeren Vergangenheit wieder in die Gegenwart zu fliehen? Ich denke schon. Aber Unbeschwertheit ist was anderes.
Das Vorurteil, auf dem Dorf wären alle miteinander verwandt, kriegt in „Dark“ eine ungeahnte Wahrhaftigkeit
Da die zweite Staffel „Dark“ erst seit zwei Tagen im Stream zu sehen ist, gliche jedes neue Beispiel zum Beleg dieser Behauptung einem Spoiler. Belassen wir es also vorerst bei dem einen Mindfuck, der uns schon in Staffel 1 zermürbte: Jonas Vater‘ Michael Kahnwald, der sich in Staffel 1 in der Gegenwart das Leben nimmt, ist in Wahrheit der in der Gegenwart verschwundene Mikkel Nielsen (11), der nach einer Nacht- und Nebelaktion an den Windener Höhlen unfreiwillig im Jahr 1986 landet, von dort aus älter wird, Jonas‘ Mutter Hannah Kahnwald kennenlernt und mit ihr ein Kind kriegt – Jonas. Was sich für Verwandtschaftskonstrukte allein durch diesen Plot auftun, bedarf bereits eines „Dark“-Stammbaums, den man während des Bingewatchings stets zur Hand haben sollte.
Der Weg ist das Ziel, das es nicht gibt – bei „Dark“ und vielleicht im echten Leben
Glaubt man dem Kollegen von ZEIT ONLINE (Zeit, haha, versteht Ihr?), dann geht es bei „Dark“ und seinem Erfolgsgeheimnis eben nicht um die Auflösung, nicht um das Serienende, auf das die Zuschauer wie zuletzt bei „Game of Thrones“ jahrelang hinfiebern und dann doch nur enttäuscht sind, weil sie ihren Helden ein anderes Schicksal zugedacht hatten. Es ginge in dieser „perfekten“ Netflix-Serie vielmehr um das Mysterium währenddessen. Um das Raten, Rätseln, Wundern, Spekulieren und Glauben, das heute nicht mehr auf dem Schulhof, sondern in sozialen Netzwerken viral geht. Wie viel checke ich, was checke ich nicht, was denken die anderen? Die Serie „Dark“ sei sehr gut darin, „ihr Publikum für dumm zu verkaufen, während sie ihm genau das Gegenteil einredet“. Wie sie irgendwann mal ende, ist womöglich wirklich zweitrangig – und falls „Dark“ von „Lost“ noch eine andere Sache gelernt hat, dann die, dass ein offenes Ende ohne Erklärung im Zweifel vielleicht doch die bessere Wahl (gewesen) wäre.
Und so erwischt man sich beim Gucken selbst dabei, über großspurige Aussagen wie „Gott ist Zeit“ oder „Warum sagt man das eigentlich, ‚ich habe Zeit‘, obwohl die Zeit doch dich hat?“ kaum gebührend nachdenken zu können – aus Angst, die nächste Figur zu verpassen, die plötzlich im Raum steht und die man aus einer anderen Zeitebene schon kennt und zum weißen Teufel nochmal nicht kapiert, wo die jetzt schon wieder herkommt.
In Staffel 3 wird „Dark“ nochmal komplexer
Im Finale von Staffel 2 wird der ganz große Cliffhanger aufgemacht auf die nächste und angeblich letzte Staffel (nach Staffel 3 soll Schluss sein). So groß, dass man sich nicht wundern würde, wenn Netflix seinen Jonas Kahnwald bei „Stranger Things“ (die 4. Staffel kommt am 4. Juli) auflaufen lassen würde und eine Art Avengers für zeit- und raumreisende Teenager erschafft.
Ein Starttermin ist noch nicht bekannt, aber es gilt nicht als unwahrscheinlich, dass die 3. Staffel von „Dark“ am 26. Juni 2020 bei Netflix startet. Das ist der Tag, an dem in Staffel 2 die Apokalypse in Winden beginnt – und nebenbei ein Freitag, der Wochentag, an dem neue Serien auf Netflix in der Regel ins Programm kommen.
https://www.instagram.com/p/ByFLXuModt7/
Die minimalistische bis melodramatische Musik ist wirklich sehr gut
Die erste Staffel begeisterte schon mit den Kompositionen von Ben Frost und Soundtrackbeiträgen von Apparat, Agnes Obel, Blixa Bargeld, Soap&Skin und Co.
Ben Frost ist auch in der zweiten Staffel zentral zu hören, außerdem spektakulär platzierte Songs wie „God’s Whisper“ von Raury und Peter Gabriels Arcade-Fire-Cover „My Body Is A Cage“.
„Dark“, Staffel 2, mit Louis Hofmann, Oliver Masucci, Jördis Triebel, Karoline Eichhorn, Mark Waschke, Sylvester Groth u.v.a., seit 21. Juni 2019 auf Netflix im Stream verfügbar