DANCE POP OHNE HAAR-AUSFALL


Mit dem House-beeinflussten Elektro-Pop ihres zweiten Albums setzt sich die 29-jährige Engländerin wieder zwischen alle Stühle. Und sitzt dort sehr bequem.

Es mag Zufall gewesen sein, dass im Sommer 2009 innerhalb weniger Wochen zwei gar nicht so unterschiedliche Debütalben von zwei britischen Musikerinnen erschienen sind, die wieder einmal weit im Vorfeld als potenzielle Zukunft des Pop diskutiert wurden. Ob Zufall oder nicht, LA ROUX vom gleichnamigen Londoner Duo und HANDS von Little Boots setzten die rückwärtsbezogenen Schlussakkorde im letzten Jahr des ersten durchweg retromanischen Musikjahrzehnts. Wir erinnern uns: die Nullerjahre. Sie begannen mit Electroclash, der vom Strokes-Libertines-Indie-Rock abgelöst wurde, der dann wenig später dem Ed-Banger-Elektro-Rock weichen musste – und das alles klang gar nicht mal so neu. Der Synth-/Elektro-Pop in der Art von La Roux und Little Boots dagegen war immer so präsent, dass von einem Revival niemand sprechen wollte.

Victoria Hesketh, die ihre Musik unter dem Namen Little Boots veröffentlicht, kommt in der Dependance ihres Labels in Berlin-Mitte aus dem Staunen nicht heraus. Über den aberwitzig großen Büroraum, in dessen Mitte sie auf einem Sofa Platz genommen hat. Der Raum ist rund geschätzte 200 Quadratmeter groß, falls man bei runden Räumen überhaupt von Quadratmetern sprechen darf, und bietet einen grandiosen Panoramablick aus den meterhohen Fenstern: auf die Humboldt-Universität, den Fernsehturm und eine der ewigen Großbaustellen in der deutschen Hauptstadt, die gerne mit ihrer Unvollkommenheit kokettiert.

In ihrer Heimat Großbritannien ist die 29-jährige Hesketh ein kleiner Star mit einem Top-5-Album und einer Top-10-Single. Hier gilt sie als Underground-Act, der mit den richtigen Leuten (Joe Goddard von Hot Chip, Jas Shaw von Simian Mobile Disco) die falsche Musik macht, die von den richtigen Leuten remixt wird (Tensnake, Gold Panda, Toddla T). Glaubwürdigkeit und Pop gehen in Großbritannien eben eher zusammen als in Deutschland. Auf ihrem zweiten Album, NOCTURNES, setzt Hesketh die Tradition der richtigen Mitarbeiter fort: Tim Goldsworthy, ehemaliges Mitglied der TripHopper U.N.K.L. E. und Mitgründer des DFA-Labels, hat das Album in seinem Studio in Bristol produziert. Andy Butler (Hercules And Love Affair) und James Ford (Simian Mobile Disco) haben Songs beigesteuert. Für Little Boots stellt sich die Frage nach einer Lagerzugehörigkeit nicht. „Ich möchte mich nicht entscheiden müssen“, sagt sie, „ich liebe Kylie Minogue, ich liebe Hot Chip, ich mag beide Welten, weil viele meiner Lieblingsmusiker in diesen beiden Welten zu Hause sind. Aber ich möchte so viele Leute wie möglich mit meiner Musik erreichen.“

Es gibt zwei signifikante Unterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Album von Little Boots. Die House-Einflüsse auf NOCTURNES sind offensichtlicher. Was die Künstlerin auf ihre DJ-Tätigkeit zurückführt – sie legt 80er-Jahre-House und -Disco auf. „Das Auflegen hat mich ein bisschen nerdiger gemacht in Bezug auf Dance Music. Ich habe mich mit der Geschichte von House beschäftigt und eine Menge alter Platten für mich entdeckt.“ Und dann ist da noch das, was unter „kreative Kontrolle“ zusammenzufassen ist. Das neue Album erscheint auf einem neuen Label. Mit dem alten war Victoria Hesketh, na ja, nicht ganz zufrieden. Dort habe man ihr gesagt, in welchem Blondton sie ihre Haare zu färben hat. „Mir sind echt die Haare ausgefallen vom vielen Färben. Da hieß es: „Du hast morgen einen Fernsehauftritt, färb dir die Haare nach.“ Als Musiker sollte man so etwas nicht von seinem Label gesagt bekommen. Es gab dort ein paar Leute, die mich nicht ganz verstanden haben.“

Albumkritik S. 84