Chris von Christine & The Queens über Stimmen (Interview)
Christine & The Queens im Interview mit Musikexpress-Redakteur André Boße
Chris, Sänger von Christine & The Queens, sagt, seine Stimme seien viele. Glaubt man sofort, hört man das unfassbar gute Album PARANOIA, ANGELS & TRUE LOVE. Chris singt hier als Trauernder und Liebender, als Marvin Gaye und Elizabeth Fraser, als drei Teenager und als Engel auf Erden. Ein Gespräch über innere wie äußere Stimmen.
Chris, was denkst du, wie viele verschiedene Stimmen von dir sind auf dem neuen Album?
Chris: Puh, das ist mir selbst nicht klar. Was richtig ist: Ich habe mehr Stimmen aus mir herausfließen lassen, als es bei den Alben zuvor der Fall war. Was schon daran liegt, dass die Platte 20 Songs besitzt.
Pro Song eine Stimme?
Mindestens. Jeder Song verlangt nach einer Stimme, die zu ihm passt. Ich nehme diese stimmliche Vielfalt sehr ernst, ich bin als Sänger wie ein zerbrochener Spiegel, der aus unzähligen Einzelteilen besteht. Hinzu kommt, dass ich diese Stücke schon vor etwas längerer Zeit geschrieben habe, sodass es viele Gelegenheit gab, der Hauptstimme noch weitere Stimmen hinzuzufügen: Stimmen, die Harmonien bilden. Aber auch Stimmen, die einen Gegenpart übernehmen.
Wenn du als Sänger wie ein zerbrochener Spiegel bist – bist du es auch als Person?
Es tut auf jeden Fall gut, die innere Vielfalt anzuerkennen. Zu erfahren, dass viele Stimmen in mir sprechen, hilft mir dabei, meine Persönlichkeit zu stärken. Mich hat es unglücklich gemacht, zu versuchen, eine bestimmte, konsistente Stimme zu finden, die mich als einzige charakterisiert. Diese Stimme mag es geben, man hört sie auf den ersten Platten, aber ihr fehlt es an Leben und Farbe. Heute nehmen meine Stimmen alle möglichen Richtungen ein. Und das gilt auch für meine fließende Persönlichkeit. Wobei beides – Stimmen und Persönlichkeiten – von etwas zusammengehalten werden, das ich meinen „Style“ nenne. Und am Ende steht die Erkenntnis: Meine Stimme ist viele.
Die Vielfalt all der Stimmen verlangt nach gesanglichem Können.
Die Variationsbreite meiner Stimme ist größer geworden, das ist richtig. Das hat aber weniger mit diszipliniertem Gesangsunterricht zu tun. Als Kind dachte ich, dass es darum geht, möglichst gut zu singen, so hatte man es mir vermittelt. Mittlerweile weiß ich, dass es vielmehr darum geht, mit Hilfe seiner Stimme oder eben der Vielfalt seiner Stimme eine möglichst starke Verbindung zur Seele zu finden. Es klingt beinahe banal, aber wer erleben will, wie Stimmen klingen, die mit ihrer Seele in Einklang stehen, der muss Soul-Musik hören, so wie ich es getan habe.
Liebste Soulstimme?
Marvin Gaye.
Das hört man einigen Tracks der Platte an.
Absolut. Seine Stimme ist voller Eleganz, sie wirkt beinahe flüssig, sie bildet einen anmutigen Strom, wirkt gleichzeitig intim und intensiv. Ich habe seine Platten sehr häufig gehört, habe eine echte Obsession entwickelt. Kaum jemandem gelingt es so gut, mit Hilfe der Stimme seine Seele zum Vorschein zu bringen. Am liebsten würde ich meinen alten Gesangslehrern einen Brief schicken: Lehrt nicht, wie man gut singt – sondern lehrt, wie man beim Singen die eigene Seele findet, wie Marvin Gaye es getan hat.
Wann bist du auf dem Album Marvin Gaye stimmlich besonders nahe gekommen?
Ich habe nicht versucht, ihn in einer Weise zu kopieren. Aber meine Vocals bei „Tears Can Be So Soft“ besitzen emotionale Elemente, von denen ich nicht wusste, dass meine Stimme sie transportieren kann. Eine gewisse Art von tröstender Trauer. Oder trauerndem Trost. Ich glaube, es tut jeder Stimme gut, wenn sie mit den Jahren einige Erfahrungen gesammelt hat. Das ist wie bei einem Bäcker, der schon Tausende Brote gebacken hat, er weiß irgendwann, wie die Chemie beim Backen funktioniert, und dann kann er sich dem Geheimnis eines besonderen Rezepts widmen. Beim Singen ist das ganz ähnlich.
Woran erkennst du, dass deine Stimme gewisse Rollen nicht übernehmen kann?
Das passiert alles instinktiv. Auf dem neuen Album gibt es drei Passagen, bei denen ich bereits beim Schreiben erkannte, dass diese nicht von mir selbst übernommen werden können. Weil sie mich in dem, was sie inhaltlich sagen, überrascht haben.
Obwohl du es selbst geschrieben hast.
Ja, seltsam, nicht? Im Grunde ist das der Beleg dafür, dass nichts von dem, was ich künstlerisch tue, auf Logik oder einem Plan basiert. Es ist alles instinktgesteuert, und bei diesen drei Stellen war mir klar: Hierfür muss ich eine Schauspielerin engagieren.
Und diese ist nun ausgerechnet Madonna.
Richtig.
Also, du gewinnst of all people Madonna als Gaststimme – und gibst ihr eine Sprechrolle. Mut oder Wahnsinn?
(lacht) Klar, man erwartet, dass sie beim Chorus mitsingt oder eine Strophe übernimmt.
Ein fürs Streaming optimiertes Featuring.
Ja, aber nur, weil man es erwartet, ist es ja nicht gut!
Wie gewinnt man denn Madonna für ein solches Feature?
Es gab ein Facetime-Meeting mit ihr über das Projekt, bei dem ich – rückblickend sehe ich das ein – ziemlich verwirrendes Zeug gefaselt habe. Ich redete von einer Platte über Engel, wobei sie das „All-Seeing-Eye“ darstellen sollte, eine Rolle, die gut zu ihr passe, und schließlich sei sie ja auch Schauspielerin, da sei es doch sicher interessanter für sie, etwas zu spielen, statt etwas zu singen, blablabla…
Du hast sie müde gequatscht?
Vielleicht. Wobei ich schon glaube, dass sie es interessant fand, eben nicht ihre erwartbare Stimme zeigen zu sollen, sondern etwas anderes. Ich meine, hey, sie ist Madonna, sie sagt „nein“, wenn sie etwas nicht machen will. Auf jeden Fall hat sie nicht lange dafür gebraucht, um ihren Part einzusprechen. Wobei ich es sehr mag, wie entmaterialisiert sie bei ihren Bits klingt.
Wie eine AI-Stimme, die Forderungen stellt …
… und Witze macht. Man sollte nie ihren Humor unterschätzen. Madonna ist ein Dandy. Ein sehr smarter Dandy. (überlegt) Klar, man kann dieses ganze Album sehr ernst nehmen, aber im Grunde erzählt es eine Tragödie – und Tragödien sind camp, sie sind queer. Vor allem, wenn sie mit einem Happy End abschließen.
Und am Ende geht’s explizit um Sex.
Sehr gutes Ende einer Reise, ja.
Über Chris
Chris wurde im französischen Nantes geboren, lernte bereits als Kleinkind Klavier, studierte Tanz und klassischen Jazz. Anfang der Nullerjahre dockte er in London an die queere Club-Szene an. Sein musikalisches Projekt nannte er Christine & The Queens. Das erste Album CHALEUR HUMAINE (2014) war ein Hit in Europa und ein Achtungserfolg in den USA, das zweite Album CHRIS im Stil von Michael Jackson wurde ein internationaler Bestseller. 2022 erschien das anspruchsvolle Album REDCAR LES ADORABLES ÉTOILES, das lose auf dem queeren Theaterstück „Angels In America“ basiert und sich als ein Prolog für das neue Album PARANOIA, ANGELS, TRUE LOVE erwies. 2022 teilte Chris mit, dass er ab jetzt die Pronomen he/him benutzt.