Carpenters Vision: Die Stadt der Verbrecher
Drei Millionen Verbrecher eingeschlossen und sich selbst überlassen in New York. Eine Mauer umgibt Manhattan. Und inmitten dieser animalischen Szenerie tickt die Zeituhr bei einer der kitzligsten Kidnapping-Affairen, die das Kino je erlebt hat. In seinem neuen Film „Die Klapperschlange“ offenbart John Carpenter seine Vision von der Zukunft der Vereinigten Staaten.
Eine sterbende amerikanische Stadt irgendwo. Magischer Anziehungspunkt für moderne Outlaws. Unergründliche Szenerie, beherrscht von den Gangs der Scorpione; Dreck, Brände, Gewalt. Und dazwischen einer, der von „draußen“ kam, um ausgerechnet dort der Erinnerung an seine Identität näherzukommen … eine post-Zivilsations-Vision des ersten schwarzen Science-Fiction-Autors Samuel R. Delany, der übrigens in Harlem aufwuchs. Titel: „Dhalgren“.
Nicht weit davon entfernt eine andere Vision. Sie kommt unter dem deutschen Titel „Die Klapperschlange“ (Original: „Escape From New York“) als neuester Film des produktiven Horror-Regisseurs John Carpenter (Halloween, Assault, The Fog) in die Kinos und basiert auf seiner Hochrechnung der Verbrechen in den USA. Ausgehend von 1960 ergibt sich da für das Jahr 1988 eine Steigerungsrate von 400 Prozent. Die Regierung verwandelt daraufhin den New Yorker Stadtteil mit der höchsten Kriminalität, nämlich Manhattan, in ein einziges Gefängnis, ausbruchsicher vermint und bald auch durch interne Machthierarchien terrorisiert. Im Jahre 1997 passiert es dann, daß der Präsident der Vereinigten Staaten nach einem Flugzeugabsturz als Geisel in die Hände der herrschenden – natürlich schwarzen – Gang gerät und mit ihm eine Kassette, deren lebenswichtige Botschaft innerhalb der nächsten 24 Stunden einen Atomkrieg verhindern soll. Die Bombe tickt…
Sie tickt auch in der Halsschlagader des Kriminellen Plissken, der Tape und Präsident in der gesetzten Frist aus den Händen des Duke (Isaak Hayes), retten soll, dem derzeitigen King der Gewalttätigen und Verrückten. Wer Kurt Russell noch als geschniegelten Elvis-Doppelgänger in Erinnerung hat, sollte dies schnell vergessen. Als Snake Plissken, die Klapperschlange, vereint er die allamerikanische Verächtlichkeit des ewigen Außenseiters, die Romantik und Brutalität des traditionellen Einzelgängers. „Call me Snake,“ krächzt er den Polizeichef (Lee von Cleef) im amerikanischen Original an, als dieser ihm die einsame Mission im Tausch gegen die Freiheit anbietet.
Gegen die mörderische Waffe in seinem Körper robbt sich Klapperschlange durch eine Hölle der Verkommenheit und des Zerfalls, wo zur Gaudi des selbsternannten Slum-Imperators gelegentliche Gladiatorenkämpfe stattfinden – auch Plissken muß in den Ring.
Carpenters Stärke beweist sich vor allem im Humor, der bei aller Brutalität eben doch mitschwingt. (Ein Grauen übrigens, das über Dolbysystem auch akustisch bedrohlich nahe kommt.) So kutschiert der Duke als Personifiziereung unserer gesammelten Vorurteile über schwarze Bandenbosse in einer Kingsize-Karosse durch knietiefen Müll; rechts und links kristallene Leuchter über den Scheinwerfern, innen der obligatorische Spiegelball. In den Ruinen der Music-Halls am ehemaligen Broadway rotten sich Kulturjunkies zum dekadenten Showdown zusammen, während Kinskis debiler Enkel (es ist ja schon 1979!) im Namen des Duke auf Gewalt programmiert, wie ein heroinsüchtiger Roboter Unheil stiftet.
Der unsterbliche Held des amerikanischen Kinos kämpft mit Haß, Verachtung und Verzweiflung natürlich erfolgreich gegen das Böse. Snake Plissken gewinnt knapp gegen die Zeit, aber nicht gegen die Verbrecher diesseits des Minengürtels. Die tödliche Gefahr in seinem Hals ist gebannt, doch der gerade noch vor Angst wimmernde Präsident schickt ihn, die Klapperschlange, mit arroganter Verachtung zurück in den Staub. „Mein Name ist Plissken,“ verbittet er sich krächzend alle weiteren Vertraulichkeiten und schlurft hinaus in die weite Prairie des Betons. Kurt Russell wäre perfekt für Dhalgren!