Bunte Seele
Otis, Marvin und Aretha wurden von Gottesmännern gezeugt. Wie auch Kelis. Die Sängerin haucht dem Soul neues Leben ein.
WAS SIND WIR DOCH NAIV. JAHR FÜR JAHR heißen wir es gut, dass die NASA und einige I weiße Elite-Universitäten Millionen und Millionen für obskure Zukunftsforschung verschlingen, aussichtslose High-Tech-Projekte in den Sand setzen, mit hilflosen Funksignalen nach außerirdischem I.eben suchen. Und während wir geduldig, einfältig und etwas misstrauisch auf „Contact“ warten und Mobil-Telephone mit Freisprechanlage für „ganz schön futuristisch“ halten, hat eine vermeintlich stets benachteiligte Community im Norden New Yorks längst das vierte lahrtausend eingeläutet. Schwerelosigkeit, Haushaltsroboter, Integration außerplanetarischer Mitbürger in Harlem gehört das offenbar ausnahmslos bereits zum Alltag. Für uns Unwissende werden dabei die Aussagen der Bewohner der Nordspitze Manhattans kryptischer. Immer weniger Gemeinsamkeiten scheint es zwischen ihrer Realität und unserer zu geben. „Pakt ist, dass Du mir nicht widersprechen kannst, wenn ich sage, es ist das Jahr 3000“, erklärte beispielsweise die junge Soul-Hoffnung Kelis kürzlich einem staunenden englischen lournalisten des New Musical Express (NME) und stellte gleich klar: „Ich bin in Harlem geboren, und hier möchte ich sterben“. Verständlich, denn hinter den Kulissen eines nintergekommenen Armenviertels verbergen sich – glaubt man den Einheimischen – die unglaublichsten Luxus-Accessoires und die fortschrittlichsten Erfindungen. Warum sollte Missy Elliott sonst dem amerikanischen Rolling Stone in vollem Ernst verraten haben: „Im lahr 2002 werden wir die Ebene erreicht haben, auf der Autos nicht mehr den Boden berühren werden“. Oder Wyclef lean: „Fliegende Autos – ich weiß, dass ich einer der ersten sein werde, der eines kauft“. Und der selbsternannte Prophet Busta Rhymes hat vielleicht den deutlichsten Hinweis gegeben. „Es gibt nicht mehr viel, was nicht schon längst erfunden wäre. Wir sehen diese Sachen nur noch nicht, wenn du weißt, wovon ich rede“, deutete er kürzlich an, und so sehr wir uns auch anstrengten, wir konnten nur ahnen, wovon er sprach.
„ES IST DRS JRHR 3008. DRS SRGE ICH“, SO KELIS Rogers mit felsenfester Überzeugung. „Alle materiellen Dinge sind bloß Kulisse. Das kann sich alles verändern, alles ist erweiterbar“, philosophiert die 20-)ährige, die im Intro ihres Debüt-Albums „Kaleidoscope“ verrät, dass sie „auf einer der Reisen in den vierten Sektor gefunden“ wurde. „Ich und Pharell haben diese tiefen Gespräche über Aliens und UFOs und den Ku-Klux-Klan. Shit fasziniert mich. Sachen passieren, und ich finde es spannend. Die Zukunft ist grenzenlos. a klar sind wir die einzigen hier. Aber sie könnten auch hier sein. Ich glaube ja auch An Dämonen“, erklärt sich der Shootingstar ein wenig unzusammenhängend. Pharell Williams, ihr erwähnter Gesprächspartner, ist übrigens die eine Hälfte eines extraterrestrisch begabten Produzenten-Duos: Die „Neptunes“ (Pharell mit Kollege Chad Hugo) aus Virginia Beach haben Kelis‘ Debüt „Kaleidoscope“ produziert, geschrieben, arrangiert und eingespielt. Das scheint zunächst verwunderlich, denn Kelis hatte nach ihrem Gastauftritt auf OI‘ Dirty Bastards Single „Cot Your Money“ gute Kontakte zum Wu-Tang Clan, eine Zusammenarbeit mit RZA wäre möglich gewesen. „Wu-Tang sind großartig, aber sie waren eine geschlossene Einheil“, erklärt Kelis im NME. „Als ich die Neptunes getroffen habe, dachte ich, ‚Wow, das ist was für mich‘. Die hatten diesen futuristischen Sound, mit dem ich etwas anfangen konnte.“
„Schau dir die Fotos von mir, Pharell und Chad an. Drei komplett unterschiedliche Menschen. Und jetzt sind wir alle zu einer einzigen krank-arschigen Wahnsinnsperson verschmolzen“, so Kelis über ihre offensichtlich befriedigende Zusammenarbeit mit dem Duo, das in der Vergangenheit schon mit Mase, Noreaga und Blackstreetzu einer einzigen krank… na ja, kooperierte. Ihren Durchbrach hat Kelis der Williams/Hugo-Komposition „Caught Out There“ zu verdanken. Die Zeile „1 hate you so much right now“ überzeugte die Programmdirektoren der einschlägigen Musik-TV-Sender. Und obwohl sie auf direkte Fragen zu diesem Song immer wieder sanftmütig erwiderte, dass „niemand glauben soll, dass ich etwas gegen Männer habe“, kommt sie gelegentlich doch recht ordentlich in Fahrt. „Ich würde Hillary Clinton zur Bürgermeisterin von New York wählen, weil sie eine Frau ist und alle Männer fucked up sind, leder einzelne. Ich hab‘ mehr Vertrauen in Frauen, weil sie rationaler sind. Wir denken anders. Wir haben über so viele lahre männliche Gedankenkonstrukte benutzt. Es ist Zeit, etwas neues auszuprobieren. Männer haben eine Menge Testosteron im Leib, und das funktioniert einfach nicht“, so Kelis‘ nüchternes Fazit.
Egal, wie die junge Frau mit dem kolorierten Afro-Haarschnitt zum männlichen Geschlecht steht – sie hat genau das, was der Rhythm’n’ßlues in der jüngeren Vergangenheit so schmerzlich vermissen ließ: Leidenschaft. „You remind me of my car“, sang R. Kelly, ein seelenloses Liebesbekenntnis für die Charts. Kein Fünkchen Leidenschaft lässt Gabrielles Album „Rise“
erkennen. Es besteht verzweifelter Bedarf nach jenem LInsichtbaren, das Aristoteles als „angenommenes Lebensprinzip von Pflanze, Tier und Mensch“ beschrieben hat. Ohne die Seele bleibt auch einer Des’ree nichts anderes übrig, als in ihrer tiefsinnigen Flymne auf das „Life“ schamlos hirnverbrannte Zeilen wie „I don’t wanna see a ghost/.. ./I’d rather have a piece of toast“ und „Name the place, l’ll be there/Bungee jumping, 1 don’t care“ zu verbreiten.
Und so ist es kein Wunder, dass nach zwanzig (oder, nach Kelis‘ Zeitrechnung, 1020) mageren Jahren ein Aufschrei durch die Branche geht, wenn erst Lauryn Hill, dann D’Angelo und nun Kelis selbstbewusst auf den Plan treten, um dem Wörtchen Soul seine Bedeutung zurück zu geben. Kein Stil steckt seit Ende der 70er Jahre derart in der Krise wie die gefühlvolle Variante der schwarzen Musik, die mit den Soulmen und -women in den 80ern entweder starb oder in glatten Disco-Produktionen die Tiefe verlor. Und so tragen die wenigen jungen Künstler, die mit Talent und Leidenschaft gesegnet sind, heute die Last eines ganzen Genres auf den Schultern – eine Aufgabe, für die Kelis bestens gemstet ist: Als Zweijährige bekam sie von ihrer Mutter eine Violine unters Kinn geschoben, sie sang im Boys and Girls Choir of Harlem, lernte Saxophon und wuchs mit der Musik von Nancy Wilson und Dizzy Gillespie auf. „Mein musikalischer Hintergrund ist der einer Großmutter“, erzählt sie, „mit 13 Jahren hab‘ ich Betty Carters Version von ‚My Favorite Things‘ gesungen. Für urbane zeitgenössische Musik hab‘ ich mich bis zur High School überhaupt nicht interessiert.“ Mit 16 lahren flog Kelis zu Hause raus. „Meine Mutter sagte, ‚Hau ab‘. Ich bekam ständig Ärger. Ich durfte nie ‚bitch‘ sagen, wollte aber dauernd. Also hab‘ ich gesagt: ‚Mom, du bist so eine witch‘.“ Während dem Schauspiel-Studium an der La Guardia High School ForThe Performing Arts (bekannt aus „Farne“) lernte sie den Wu-Tang-Produzenten Goldfingahz kennen, was letztendlich zu Gastauftritten bei den C.ravediggaz und Ol‘ Dirty Bastard führte.
Ls mag Zufall sein, doch ist es interessant zu wissen, dass D’Angelo und Kelis ein biographisches Detail gemeinsam haben, das sie mit den Soul-Größen der Vergangenheit verbindet: Genau wie Marvin Gaye, Sam Cooke, Otis Redding und Aretha Franklin wurden sie ausnahmslos, halleluja! – von Gottesmännern gezeugt. Predigerkinder, die im Kirchenchor und über die elterliche Spiritualität zu einer schwarzen Stimme fanden, die kräftig genug war, die musikalische Welt zu verändern. Daher auch Kelis’Tätowierung auf dem Handgelenk: Musicae Nuntius Dei. „Wenn ich unverschämt wäre, würde ich sagen, ’schlag es nach‘. Aber es bedeutet ‚Musikalischer Botschafter Gottes‘. Ich sage nicht, dass ich das bin. Aber ich versuche, es zu sein“.