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Buch des Monats
Die Propheten des „New Life“ aus der „New Town“ Basildon
Depeche Mode. Just Can’t Get Enough
von Simon Spence
*****
Dank einer starken These nicht bloß eine weitere Bandbiografie
Auf den ersten 50 Seiten von Musikerbiografien werden gewöhnlich die Kindheitserlebnisse der späteren Stars ausgebreitet. Schulfreunde erzählen über den schon damals tollen Hecht und gelegentlich wird auf Vorprägungen und Motive für das künftige Werk hingewiesen. Klar, man kann nicht ganz darauf verzichten, doch es liest sich oft allzu zäh. Der britische Journalist Simon Spence wollte sich damit nicht zufriedengeben. Sein komplettes Buch über Depeche Mode sollte sich auf die Jahre vor dem Ruhm beschränken und „mit dem letzten Ton des ersten Albums enden“.
Eine faszinierende Idee. Denn Spence geht tief hinein in die Geschichte von Basildon, der Heimatstadt der Musiker. Sänger Dave Gahan hatte Depeche Mode einmal als „neuartige Band aus einer neuartigen Stadt“ bezeichnet – Basildon war nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Reißbrett entstanden, um den Menschen in den ausgebombten englischen Städten eine neue, komfortable Heimat zu bieten. Ein Bilderbuch-Projekt, dessen Bewohner bald einen eigenen Menschenschlag herausbildeten. Spence hat mit zahlreichen Zeitgenossen gesprochen und beschreibt, wie die spezielle Traditionslosigkeit Basildons Depeche Modes modernistischen Synthie-Pop beförderte. Diese Kulturgeschichte und Mikrosoziologie eines Ortes bringt tatsächlich noch mal Erkenntnisgewinn über eine Band, deren Geschichte schon so oft erzählt wurde.
Doch Spence entschloss sich, auch den weiteren Weg von Basildon nach Berlin nachzuzeichnen – bis zu den in den Hansa-Studios produzierten Alben von 1984 und 1985. Auch wenn der Autor in dieser Phase nicht mehr so viel Neues zutage fördern kann, beschreibt er doch sehr stringent, wie die Band eine Welt außerhalb Basildons entdeckte und auf welche Mitstreiter sie dabei gestoßen sind. Schade nur, dass das uninspirierte, aktuelle Bandfoto auf dem Cover der deutschen Ausgabe nicht darauf schließen lässt, welche Perle dieses Buch ist! Felix Bayer
I’ll Never Get Out Of This World Alive
von Steve Earle
****1/2*
So knurrig wie seine Songs: das Romandebüt des Songwriters
Der amerikanische Songwriter Steve Earle kennt sich aus: Einmal ist da der Rausch. In einer hässlichen, todesnahen Form, der sich der Protagonist aber mit der nötigen Demut beugt. Dazu kommt der Geist von Hank Williams. Diese Themenkomplexe tauchen paarweise auf und sind die Konstante im Leben von Doc, einem Arzt und Engelmacher, der seine Approbation längst verloren hat und der im schäbigsten Winkel der Tex-Mex-Metropole San Antonio lebt. Eine seiner Patientinnen ist die blutjunge Graciela. Ein Mexikanermädchen, das eines Tages von ihrem Lover zur Abtreibung gebracht und aus Docs Pensionszimmer nie wieder abgeholt wird. Dass sie ebenso wenig von dieser Welt ist wie der Geist von Hank Williams, fällt rasch auf – und bringt die Dinge gehörig durcheinander. Earles Schreibe erinnert tatsächlich an seine Songs. Unaufgeregt ist sie, etwas knurrig und voller Querverweise in die Schattenwelt des okkult-katholischen Mexikos. Manchmal winkt der große texanische Romancier, Sänger und Alles-Künstler Kinky Friedman herüber, an anderer Stelle muss man an Michael Lewin und seine Albert-Samson-Krimis denken. Ein spätes, aber um so schöneres Debüt.
Jochen Overbeck
George Harrison. Living In The Material World
von Olivia Harrison
****1/2*
Foto-Biografie des „stillen Beatle“, herausgegeben von seiner Witwe
Zehn Jahre nach George Harrisons Tod hat seine Witwe Olivia einen Bildband zusammengestellt, der seinen Titel und sein Aufmacherbild gemeinsam hat mit dem gelobten Dokumentarfilm von Martin Scorsese, der seit Oktober auf Festivals zu sehen ist. Hier wird ein Vermächtnis festgeklopft – doch auf würdevolle Weise. Harrison erscheint im Buch als Doppelgestalt: in sich gekehrt, meditativ einerseits, humorvoll, gesellig andererseits. Dieser George hing bei Formel-1-Rennen herum, jener pflanzte leidenschaftlich Bäume und Büsche. Sein Sohn Dhani dachte lange, Papa sei Gärtner; erst als Mitschüler ihm „Yellow Submarine“ hinterhersingen, stellt er den Vater zur Rede: „Oh, ich hätte dir wohl erzählen sollen, dass ich bei den Beatles war.“ Es gibt wunderbare Fotos hier vom Indien-Trip der Band, eindrucksvolle Dokumente der Selbstinszenierung des Solokünstlers und Kleinigkeiten wie Harrisons ersten Reisepass, bei dem im Feld für „Ehefrau“ ein Bild von George mit Pilzkopffrisur prangt.
Felix Bayer
Raven wegen Deutschland
von Torsun und Kulla
****
Eine literarische Reise in den Sommer der Afterhours 2007
Es kommt öfter mal vor, dass sich ein Musiker zum Autor berufen fühlt. Meist kann man dann die rührselig anbereitete Geschichte vom Weg von ganz unten aus dem Ghetto nach ganz oben in die Scheinwerfer der Welt begleiten. Bushido und Fler haben uns hierzulande gezeigt, wie man mit derart platten und klischeebefeuerten Aufstiegsmythen aus Albummillionen auch Buchmillionen machen kann. Der Berliner Torsun von den Elektropunkern von Egotronic macht vor, wie es besser geht: Ein knalldirektes, rockendes und zugleich politisch-polarisierendes Album zu veröffentlichen, und ein Buch rauszubringen, das man auch mit Genuss lesen kann, ohne jemals einen Song von dieser Band gehört zu haben.
Denn Torsun und Daniel Kulla haben mit „Raven wegen Deutschland“ eben keine schnell zum ersten Platinalbum zusammengeschnipselte „Autobiografie“ vermurkst, sondern ein lebendiges Zeitdokument geschaffen, eine literarische Reise in den Summer der Afterhours of 2007.
Den vertreibt sich Torsun mit ziemlich professionell hingelegten Abstürzen und bringt es dabei irgendwie fertig, ein Album zu produzieren. Zu Beginn des Buches stehen Egotronic kurz vor der Auflösung: der Bandkollege ist ausgestiegen, Torsun ist arbeitslos, die Freundin weg. Wahnwitzig schnell erzählt das Buch, wie er sich dann Kopf voran in einen wochenlangen Exzess stürzt, an dessen Ende die Veröffentlichung des Albums Lustprinzip steht. Das Werk, mit dem Egotronic seinen Durchbruch feierte. Man riecht den Schlamm auf den Festivals, sieht die vielen Tausend in die Luft geworfenen Hände, und spürt dann sehr deutlich, wenn man das Buch beiseitelegt, was für eine vielleicht große Zeit an uns gerade vorübergegangen ist – zumindest an denen, die sie mitgelebt haben.
Literarisch ist „Raven wegen Deutschland“ eine Klasse für sich. Die schnellen Erzählsequenzen Torsuns werden abgewechselt von Co-Autor Kulla. Der Fotograf und Blogger aus dem Egotronic-Umfeld hat die Protagonisten dieses Sommers befragt und lässt sie in kleinen Interviews zu Wort kommen.
Vielleicht wird man Bücher wie dieses erst in ein paar Jahrzehnten richtig schätzen lernen, wenn der ganze Berliner Technohype der Nullerjahre Vergangenheit ist und sich die neuen Generationen fragen, wie das wirklich war damals, dieses Drei-Tage-wach, diese überbelichtete Zeit, als Berlin für ein paar Jahre der Nabel der internationalen Feierwelt war. Dann wird man „Raven wegen Deutschland“ hervorkramen und es nachlesen können, Seite für Seite, Tag für Tag.
Airen