Bryan Ferry im Interview: „Bands? Ein Vergnügen auf Zeit“
Bryan Ferry über Roxy Music, Coversongs, Punk und darüber, warum Andy Warhol Smartphones geliebt hätte.

Glamrock-Erfinder mit Roxy Music, Posterboy des Rock’n’Roll, Großmeister des Edel-Pop, Gralshüter alter Jazz-Standards: Schaut man auf das Lebenswerk von Bryan Ferry, wird schnell klar, dass der Mann keine Langeweile mag. Und inzwischen dreht er auch noch seine eigenen Videos! Nach gut 50 Karrierejahren blickt der Brite zurück: Die Box RETROSPECTIVE – SELECTED RECORDINGS 1973-2023 versammelte Aufnahmen aus allen Phasen seiner Solokarriere. Auch ein neues Stück war dabei. Und das ist erst der Anfang. Denn Bryan Ferry ist noch nicht fertig.
Der Weg zum Gespräch war ein wenig beschwerlich: Wer dann da die Fragen stelle und für welche Publikation? Ein Fragebogen wie ein Einreiseformular – dann aber geht alles sehr schnell: Bryan kann um drei – da sind wir natürlich dabei! Das Zoom-Setting erledigt Assistentin, Bryan Ferry, 79 Jahre alt, trägt Tweet-Sakko. Der Haaransatz lässt die Tolle nicht mehr zu, die Seiten sind grau meliert – ein wenig wirkt er wie ein Bibliothekar, der den Gesprächspartner gleich in die Untiefen der Dramen von Shakespeare oder in die Welt der im Norden Englands beheimateten Vogelarten entführt. Stattdessen führt das Gespräch aus Anlass der Werkschau RETROSPECTIVE zurück in die Zeit, als Roxy Music dem Punk Impulse gaben, Bryan Ferry auf Dylan stieß, Popproduktionen unendlich teuer waren und Roxy Music in dem Moment keine Studioband mehr waren, als sie ihr Meisterwerk vollendeten. Am Ende des Interviews verweist er auf ein baldiges Wiedersehen: Ein neues Album steht an. Mehr wolle er noch nicht verraten. Beim nächsten Mal dann. Wer denn da die Frage stelle und für welche Publikation, das wisse er ja nun.
Mr. Ferry, ich gehe davon aus, dass Sie sich im Zuge der Zusammenstellung von RETROSPECTIVE in den vergangenen Monaten sehr häufig Ihre eigene Musik angehört haben.
Oh ja, mehr als üblich. Ich habe versucht, alles, was ich abseits von Roxy Music aufgenommen habe, zu kategorisieren. Um dem Zeug einen Sinn zu geben.
Hat das funktioniert?
Ich denke schon, und zwar vor allem deshalb, weil ich rückblickend noch einmal gemerkt habe, wie viele verschiedene und großartige Musikerinnen und Musiker an diesen Aufnahmen beteiligt waren. Was für fantastische Leute ich für meine Alben gewinnen konnte! Sie alle waren musikalisch auf einem sehr viel höherem Niveau als ich unterwegs. Ein trauriger Umstand ist, dass ich bewusst in der Vergangenheitsform spreche: Nicht wenige von diesen Menschen sind gestorben. Ein trauriger Fakt, der unvermeidlich ist, wenn man auf eine so lange Zeit zurückblickt.
Man spricht bei Ihren Aufnahmen abseits von Roxy Music von Soloalben. Eigentlich Quatsch, oder?
Absolut. Alleine wäre ich nichts. Ich habe zwei Karrieren: Eine mit Roxy Music, eine mit sehr, sehr vielen verschiedenen Bands.
Sie haben puren Rock’n’Roll und edlen Luxus-Pop aufgenommen, Musik im Stil der 20er-Jahre und zuletzt einen Techno-Track. Gibt es einen roten Faden, der sich durch Ihr Werk zieht?
Mein Verlangen, dem Werk immer wieder etwas Neues hinzuzufügen. Ich denke, das ist es, was man als Künstler tun sollte. Ich habe mal dieses, mal jenes gemacht. Danach habe ich gesagt: Ja, das war gut, aber jetzt probieren wir mal dies oder das. Jede Platte muss ein wenig anders sein. Allein schon deshalb, damit ich mich nicht langweile. Wie viele andere Künstler auch habe ich große Angst vor der Langeweile. Wobei: Etwas Neues zu machen, bedeutet nicht, immer wieder komplett andere Sounds zu finden. Was ich mache, ist Popmusik. Und Pop lebt auch davon, bestimmte Sachen immer wieder neu zu kombinieren.
Gehen wir mal einige dieser Kombinationen durch: Auf dem ersten Album mit dem Bryan Ferry Orchestra ließen Sie 2012 eine Band Ihre Stücke im Stil der Roaring 20s spielen. Das Besondere: Die Aufnahmen klingen, als plärrten Sie aus einem Grammofon.
Das war damals ein interessantes, kleines Abenteuer für mich. Und es hat einen autobiografischen Hintergrund. Als ich noch ein sehr junger Mann war, zehn Jahre alt, war ich wie viele Leute meiner Generation großer Fan von Jazz und Blues. Das war Mitte, Ende der Fünfzigerjahre. Der Rock’n’Roll war damals im Norden Englands, wo ich aufgewachsen bin, nicht mehr als ein Gerücht. Also hörte ich Duke Ellington und Joe King Oliver, Charlie Parker und einen jungen, aufregenden Kerl namens Miles Davis. Ich hing am Radio, gab mein selbst verdientes Geld für Platten aus. Ich würde es als seltsam empfinden, diese frühen Einflüsse nicht auszunutzen. Übrigens haben diese Leute auch meine Garderobe geprägt: Als ich jung war, hatte ich das Glück, einige dieser Leute bei Konzerten zu sehen. Ich war großer Fan der „Jazz At The Philharmonic“-Reihe, da kamen Leute wie Dizzy Gillespie oder Oscar Peterson in meine Gegend im Norden Englands, und, wow, was waren die cool! Und was sahen die cool aus! Elegant und lässig. So wollte ich auch auftreten!
Das komplette Gegenteil der Aufnahmen des Bryan Ferry Orchestra ist Ihr Album BOYS AND GIRLS aus dem Jahr 1985. Wenn ich jemandem erklären soll, was HiFi-Sound ist, lege ich diese Platte auf.
Wir hatten zuvor mit Roxy Music AVALON aufgenommen, ein Album, das sehr gut klingt, ich war sehr zufrieden damit. Bald wurde mir bewusst, dass das Kapitel Roxy Music damit fürs Erste geschlossen ist. Zumindest im Studio. Als dann eine Soloplatte anstand, hatte ich Lust, die Soundidee von AVALON fortzusetzen, noch weiterzugehen. Ich sprach mit unserem Toningenieur Bob Clearmountain, der bereits AVALON gemischt hatte, und fragte ihn: „Was können wir an Klang noch rausholen?“ Und er meinte: „Lasst uns weniger aufnehmen. Damit Luft an die Musik kommt.“ So haben wir es damals gemacht. Wobei das rückblickend einfacher klingt, als es war. Einem Album einen passenden Sound zu geben, dauert manchmal Wochen, Monate. Aber es ist wichtig, sich diese Zeit zu nehmen. Stellen Sie sich vor, ich hätte im Laufe der Jahre ein paar mies klingende Platten aufgenommen: Was für eine Qual wäre das Wiederhören geworden?
Es gibt auf RETROSPECTIVE mit „Star“ einen neuen Song zu hören, mit dem Sie eine neue Richtung einschlagen: Technopop. Ein wenig fühlt man sich an die Wandlungen von David Bowie erinnert.
Ich nehme das als Kompliment. Der Track ist das Resultat einer Zusammenarbeit mit Trent Reznor und Atticus Ross von Nine Inch Nails. Die beiden hatten „Star“ als Skizze fertig, ich haben den Song komplettiert, mit Hilfe der schottischen Künstlerin Amelia Barratt, die als Sängerin zu hören und im Video zum Song zu sehen ist. Das Stück ist ein Vorgeschmack auf eine weitreichendere Zusammenarbeit mit Amelia, die sehr bald erscheinen wird. Sie werden jetzt sicher wissen wollen, wie die anderen Tracks klingen werden. Da brauchen Sie aber noch ein wenig Geduld. Aber nicht viel, das verspreche ich Ihnen. (lacht)
Amelia Barratt ist als Künstlerin tätig. Sie haben ebenfalls Kunst studiert, bevor Sie mit Studienkollegen Roxy Music gründeten. Könnte es in einer Parallelwelt einen Bryan Ferry geben, der sich nicht der Musik, sondern der Bildenden Kunst widmet?
Das kann schon sein, ich würde es nicht ausschließen. Ich merke das daran, wie sehr mich Museen interessieren. Wenn ich auf Tournee bin, dann begebe ich mich immer auch auf eine Museumstour. Wenn ich eine Stadt besuche, weiß ich, welche Museen ich besuchen möchte. Sie kommen aus Köln, richtig? Kein Besuch dort ohne ein Besuch im Museum Ludwig. Mein größtes Privileg als Musiker ist es, durch die Welt zu reisen und dabei die Möglichkeit zu haben, die großartigsten Kunstgalerien und Museen zu sehen.
Malen Sie selbst noch?
Leider nein. Mir fehlt die Zeit.
Wirklich?
Na gut, vielleicht fehlt mir auch der Zugang. Aber um diesen zu finden, braucht man Ruhe. Und dafür braucht man eben Zeit. Aber ich habe zu Hause alles vorbereitet: Ich habe eine leere Leinwand aufgebaut, die seit einiger Zeit darauf wartet, von mir bemalt zu werden. Mal sehen, wann es passiert. Was ich sagen kann: Als Musiker vermisse ich die visuelle Seite der Kunst. Das Einzige, was man gestalten kann, ist das Albumcover. Ich war zuletzt ein wenig ausgehungert, suchte nach einem Ventil.
Haben Sie eines gefunden?
Ja, ich habe das Video zu „Star“ inszeniert. Amelia Barratt spielt, ich stand hinter der Kamera. Nicht, weil ich es unbedingt wollte, sondern weil wir auf die Schnelle niemanden gefunden haben. Die Sache hat mir aber sehr gut gefallen, auch davon wird es mehr geben. Musikvideos waren in den 80er- und 90er-Jahren ein bedeutsames Medium für den Pop. Und teuer waren sie. Sündhaft teuer. Der Clip zu „Star“ hat ein Bruchteil von dem gekostet, was wir damals ausgeben durften.
Hat sich das viele Geld, das in die Musikvideos investiert wurde, aus künstlerischer Sicht gelohnt?
Nicht immer, aber manchmal schon. Ich habe großartige Videos mit Jean-Baptiste Mondino gedreht, zum Beispiel zu „Slave To Love“ – sehr filmische Clips, die das viele Geld wert sind, wie ich finde. Andererseits schätze ich es sehr, dass wir jetzt diese Dinger hier haben. (kramt sein Smartphone hervor) Jeder kann heute ein Künstler sein. Andy Warhol hätte Smartphones geliebt!
Sind Sie ein Verfechter des Do-it-Yourself-Ethos?
Absolut!
Was haben Sie damals eigentlich vom Punk gehalten?
Ich war in Amerika, als in London der Punk explodierte. Ich befürchte, ich habe damals einiges verpasst. Es gibt da diesen einen Song, „Sign Of The Times“ vom 1978er-Album THE BRIDE STRIPPED BARE, den ich als meinen Punk- und Metalsong betrachte. Im Video dazu tragen Sie Vollbart! Aber ich singe über Lippenstift und Leder. Was ich ziemlich großartig finde, ist, dass es viele Punkbands gibt, die Roxy Music als einen wichtigen Einfluss benennen.
Jello Biafra von den Dead Kennedys hat durch Sie ja erst seinen Gesangsstil entwickeln können.
Ah.
Er hat sogar mit den Melvins zusammen den Roxy-Music-Song „In Every Dream Home A Heartache“ gecovert. Und die Gothic-Rocker von Fields Of The Nephilim auch. Kennen Sie diese Versionen?
Nein. Mir hat es gereicht, meine eigenen Sachen zu hören, da brauche ich nicht noch Coverversionen. Wobei ich es sehr interessant finde, was andere aus meinen Songs machen.
Ein Markenzeichen Ihrer Soloplatten ist die hohe Dichte an Coverversionen. Wann ist ein Cover gut?
Wenn es anders klingt als das Original, ohne, dass die Seele des Originals komplett überdeckt wird. Ich sprach bereits von meiner Sozialisation als Musikfan, im Jazz ist es üblich, Stücke immer wieder neu zu spielen. Da gab es eine Komposition, einen klassischen amerikanischen Song wie „All The Things You Are“. Und dann kommen Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Ella Fitzgerald oder Coleman Hawkins: Sie all interpretierten ihn anders – und doch nutzen sie ein- und dieselbe Vorlage. Stützen sich auf denselben Impuls, der den Stein ins Rollen bringt. Meine besten Coverversionen waren die, bei denen ich mit einer klaren Vorstellung an die Sache herangegangen bin: „So sollten wir es machen!“
Wann ist das besonders gut gelungen?
Vielleicht gleich beim ersten Cover überhaupt, „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ von Bob Dylan. Du musst den Song lieben, musst ihn respektieren. Und dann musst du ihm an den Kragen wollen. Du musst einen eigenen Weg finden, ihn zu spielen. Musst dabei weit über die Imitation des Originals hinausgehen.
Sie haben sehr häufig Dylan gecovert, mit DYLANESQUE erschien 2007 ein Album mit Ihren Dylan-Interpretationen. Was schätzen Sie so sehr an ihm?
Ich bin kein Experte in Sachen Dylan. Es gibt unzählige Leute, die sich in seinem Werk viel, viel besser auskennen. Aber: Ich halte ihn für einen erstaunlichen Texter. Und wenn ich als Sänger die Songs anderer interpretiere, dann ist es wichtig, dass die Texte gut sind. Sonst wird das Covern schnell ein Ärgernis. Dylans Lyrics sind im Allgemeinen hervorragend. Voller Bilder. Emotional, dabei sehr intelligent. Das gefällt mir. (überlegt) Ich habe ihn leider nur ein einziges Mal live gesehen, und das zu einer Zeit, als er nicht Gitarre spielte, nur Keyboards. Das war ein bisschen seltsam, aber auch diese Seite gehört zu einem Künstler dazu.
Wir sprachen gerade schon über AVALON, das letzte Album von Roxy Music. Wenn Sie so sehr damit zufrieden waren, warum eigentlich kam danach kein Weiteres mehr?
Zum einen finde ich es gut, die Diskografie einer Band mit einem Album zu beschließen, das sehr gelungen ist und sich auch gut verkauft hat. Zum anderen war es so, dass ich nach der Arbeit an AVALON eine Auszeit von einer festen Band brauchte. Mir fehlte es, immer wieder neue Musiker zu treffen. Ohne eine feste Band genieße ich ein Arbeiten ohne Beschränkungen. Ohne das Gefühl zu haben, für eine Gruppe verantwortlich zu sein. Bands sind eine sehr schöne Sache. Aber es ist ein Vergnügen auf Zeit. Und nichts für die Ewigkeit.