Kolumne

Aidas Popkolumne: Boycott the Whole Lot! … oder?


Hear ME Out: Die deutsche Kulturszene soll bestreikt werden. Aida Baghernejad hat Fragen dazu.

Vor zwei Wochen schrieb ich an dieser Stelle in meiner ersten Kolumne noch über die Relevanz von Musikjournalismus und warum er jetzt erst recht so wichtig ist – die Älteren erinnern sich vielleicht noch. Naja, weil das Universum einen ziemlich darken Humor hat und meinen Punkt einfach mal richtig gut unterstreichen wollte, wurde dem seit Jahren im Todeskampf befindlichen Musikjournalismus noch einmal richtig schön die Fresse poliert: Anna Wintour, ja, die von Vogue US, verkündete in ihrer Funktion als „Chief Content Officer“, also als Chefin aller redaktioneller Belange beim Verlagsriesen Condé Nast, dass das Musikmagazin Pitchfork künftig nur noch ein Teil des sogenannten „Männermagazins“ GQ sein wird. Dass gleichzeitig fast die gesamte Belegschaft, inklusive langjähriger Redakteur:innen und sogar der renommierten Chefredakteurin Puja Patel, gefeuert wurde, überrascht dann kaum. Noch weniger, dass laut Aussage einer nun ehemaligen Redakteurin Anna Wintour ihre Sonnenbrille nicht mal abnahm, als sie Leute feuerte.

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Kaum etwas illustriert die Ignoranz selbstbezogener, von den eigentlichen Themen längst abgekoppelten Chefetagen besser als dieser Move. Für die Generation Anna Wintour und die ihr ins Ohr flüsternde Beraterhorden ohne Blick für das große Ganze ist Musik immer noch ein „Jungsding“ – talk about Ewiggestrig. Das bis heute, trotz der Fragmentierung unserer Musikgeschmäcker seit dem Aufkommen von Musikstreaming und Social Media, immer noch reichweitenstärkste Musikmedium im Internet zu sein, reicht halt nicht, wenn Sparmaßnahmen anstehen. Spitzengehälter für die Chefetage sind eben wichtiger als Inhalte oder Platz für Diskurs und die Chanel-Kleider und Dior-Handtaschen für Anna Wintour gibt’s auch nicht for free. Also für sie wahrscheinlich schon, aber naja, ihr wisst schon.

Wir brauchen kritische Musikmedien

Dabei brauchen wir gerade heute kritische Musikmedien, die ein Thema von vorne, hinten, quer und einmal auf links gedreht beobachten und nicht bloß PR-Emails wiederkäuen (auch wenn Pitchfork natürlich auch das gemacht hat, irgendwo müssen die Klicks ja herkommen). So ein Thema, dass man dieser Tage aus jeder Richtung betrachten und auseinandernehmen sollte wie einen Rubik-Würfel, ist zum Beispiel die Boykott-Kampagne „Strike Germany“. Der Gedanke: Aufgrund Deutschlands Positionierung im Nahostkrieg soll die hiesige Kulturszene, insbesondere Orte, die von staatlicher Förderung abhängig sind, bestreikt werden.

Wer genau dahinter steckt, weiß niemand so recht. Trotzdem schafft es die Kampagne, Musiker:innen, Autor:innen, Filmschaffende und viele mehr zu überzeugen, sich ihr anzuschließen – prominent etwa Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux oder zuletzt auch Philosoph:in Judith Butler. Die Bücher der beiden Autor:innen werden zwar in Deutschland weiter verkauft, und auch die angesetzten Theaterinszenierungen von Büchern Ernaux’ sind nicht gecancelt, aber umm, irgendwas wird bestreikt. Oder so ähnlich. Sie wollen, so argumentieren viele der Streikenden, nicht Teil staatlich geförderter deutscher Kulturinstitutionen sein, die sich nicht klar genug „für Palästina“ aussprechen, als wäre ein Krieg ein Fußballspiel.

Fair enough, es ist ein freies Land und jeder kann sich entscheiden, Engagements und Aufträge abzulehnen, mit denen er/sie/them sich nicht wohlfühlt. Und Moves wie eine rechtlich mindestens extrem fragwürdige, und faktisch nur symbolpolitische vermeintliche „Antidiskriminierungsklausel“ in Berlin haben in den letzten Wochen nicht gerade zu großem Vertrauen in die Kunstfreiheit hier in Deutschland geführt. Die führte der Berliner Kultursenator Joe Chialo erst unabgesprochen und undurchdacht ein, nur um einen Monat später nach wütenden Protesten und vielen guten Argumenten nicht nur aus der Kulturszene, sondern auch von Antisemitismus- und Antidiskriminierungsexpert:innen, einen Rückzieher zu machen.

Kulturboykott mit Geschmäckle

Aber dennoch hat die Sache mit dem Kulturboykott ein Geschmäckle. Und zwar nicht nur der, dass ein Boykott jetzt nicht wirklich etwas an dem Hunger und Sterben in Gaza ausrichten wird. Auch sind die Chancen, die deutsche Öffentlichkeit, geschweige denn die Politik, von der eigenen Position zu überzeugen, sagen wir mal … eher gering. Er wird auch schon gar nicht die Geiseln der Hamas wieder nach Hause bringen oder Deutschland von irgendwelchen problematischen Militärexporten abhalten. Und dass das Leiden und Tod in Ländern wie Myanmar, Sudan oder Ecuador kaum die gleiche Beachtung findet, das hat sich ja eh über die letzten Monate abgezeichnet. Nein, es ist auch augenfällig, dass dieser Boykott vor allem Räume trifft, die für Diversität stehen. In denen viele Menschen, die nicht dem Bild der deutschen Mehrheitsgesellschaft entsprechen, lange dafür gekämpft haben, einen Platz am Tisch zu erhalten und Orte der Begegnung zu schaffen.

Es trifft Veranstaltungen wie etwa die Berlinale, das Kunstfestival Transmediale oder das Musikfestival CTM, alle in Berlin. Alle sind sie eigentlich als Institutionen bekannt, die im Gegensatz zu vielen, immer noch viel zu vielen Kunst- und Kulturräumen in Deutschland, Platz für offenen Diskurs bieten. Sie bringen Werke und Künstler:innen aus der ganzen Welt, besonders des globalen Südens, nach Deutschland, um auch deren Perspektiven und Themen abzubilden – was gerade auch für in Deutschland lebende und oftmals vom kulturellen Mainstream ignorierten marginalisierte Communities relevant ist.

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Gesichter sehen, die aussehen wie das eigene, Musik hören, die von anderen Einflüssen geprägt ist, die Sounds aus der ganzen Welt kombiniert, die Klangwelten eröffnet, die andere Realitäten widerspiegelt, als Community zusammenkommen, gemeinsam Kunst erleben – gegen all das sprechen sich die Streikenden nämlich auch aus, auch wenn sie das vielleicht nicht intendieren. Sie geben Ressourcen, Sichtbarkeit und Plätze auf, um die Generationen an marginalisierten Kulturschaffenden in Deutschland erbittert und gegen große Widerstände gekämpft haben. Nur um jetzt mitanzusehen, wie diese Gelegenheiten weggeworfen zu werden, statt sie zu nutzen, die jeweils andere Position zu verstehen. Ohne Hass, Hetze und ohne Diskriminierung.

Ich bin nicht aus Prinzip gegen Boykotte im Kulturbereich. Im Gegenteil: es gibt welche, mit denen ich viel anfangen kann. Pearl Jams Beschluss in den Neunzigern etwa, nicht in Venues zu spielen, die zu Ticketmaster gehören. Schon damals war die Band kein Fan vom Geschäftsgebaren der Ticketplattform – heute, 30 Jahre und eine Fusion mit Live Nation später, hat das Konglomerat effektiv das Monopol über den Konzertmarkt nicht nur in den USA übernommen. Auch Boykotte von Veranstaltungshallen etwa, die Räume an Rechtsextreme vermieten, kann ich nachvollziehen. Oder wenn es gegen Bands, Booker:innen oder Festivals geht, deren Mitglieder oder Teams menschenfeindlichen Ideologien anhängen oder auch einfach nur richtig miese Typen sind. Konkrete Maßnahmen mit konkreten Zielen.

Wenn Boykotte diffus bleiben

Doch immer wieder bleiben Boykotte leider diffus, pauschal und treffen, wie im Fall von „Strike Germany“, gerade jene, die mehr Diversität schaffen wollen. Das Paradebeispiel ist natürlich die als BDS-Kampagne. Die fordert Künstler:innen mittlerweile nicht mehr nur auf, nicht in Israel zu spielen, sondern hat sich seit einigen Jahren auch auf Festivals in anderen Ländern eingeschossen, die israelische Künstler:innen, die zum Beispiel eine staatliche Reiseförderung erhalten, buchen. In den letzten Jahren hat das etwa Künstler:innen wie Young Fathers aus Schottland davon abgehalten, beim Pop-Kultur-Festival in Berlin zu spielen. Wem genau das etwas bringen sollte – unklar. Oder der Boykott des US-Bundesstaates Arizona in 2010, organisiert von Zac de la Rocha von Rage Against the Machine. Da ging es im weitesten Sinne um dort eingeführte Gesetze, die Racial Profiling beförderten. Ein hehres Anliegen, dem sich unter anderem auch Conor Oberst, Cypress Hill und Sonic Youth anschlossen – sogar Kanye war damals noch dabei. Doch dass ein solcher Boykott auch, wenn nicht sogar insbesondere die trifft, die sich gegen derlei rassistische Politik aussprechen, war nicht Teil des Diskurses. Hätte man nicht Konzerte organisieren können, die Opfern rassistischer Polizeigewalt direkt zugute kommen? Oder Shows in alternativen, kollektiv geführten Venues spielen? Nun ja.

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Boykotte können gerade im Kulturbetrieb ein gutes Mittel sein, um Druck aufzubauen, keine Frage. Aber vielleicht sollten sich Organisator:innen von Boykotts öfter fragen, wo der Feind sitzt. Meine Vermutung: seltener an den Orten, die versuchen Räume der Begegnung zu schaffen und öfter da, wo diese Räume dicht gemacht werden. Von Entscheider:innen, die nicht einmal ihre Sonnenbrille dazu abnehmen.

*Transparenzhinweis: Aida Baghernejad hat in den letzten Jahren immer wieder in verschiedenen Funktionen, etwa als Moderatorin, für die Festivals CTM und Pop-Kultur gearbeitet.

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