Titelgeschichte ME 10/2016

Bon Iver: Der Wald ist nicht genug


Als Justin Vernon sich in eine winterliche Holzhütte einschloss und ein schön trauriges Herzschmerzalbum aufnahm, wurde er zum bekanntesten Einsiedler des Pop. Plötzlich wollten alle mit dem Wunderknaben aus Wisconsin arbeiten. Nach Album Nummer zwei, einem Grammy und diversen Aufnahmen mit Kanye West war Vernon drauf und dran, seine Band Bon Iver für immer zu begraben – bis jetzt. Die Geschichte hinter dem Comeback des Jahres.

20 Autominuten vom Festivalgelände entfernt, in Fall Creek, hat Vernon vor ein paar Jahren sein eigenes Studio errichtet. Trever Hagen sieht in „April Base“, einer umgebauten Tierklinik, eine Künstlerkommune, „wo sich ständig ausgetauscht und zusammengearbeitet wird“, man sich aber auch problemlos zurückziehen kann. Wie sehr Vernon die Idee des Studios als Instrument verinnerlicht zu haben scheint, kann man in den Liner Notes für das neue Album nachlesen. Dort ist keine Einzelperson, sondern das ganze Studio angegeben. Für Vernon sei es wichtig, so Hagen, dort übernachten und gleich nach dem Aufstehen an seinen Songs arbeiten zu können. Das kann er natürlich auch in New Yorker Studios haben, in Chicago oder in Los Angeles. Warum also in einem Nest wie Eau Claire bleiben? „Wir haben damals als Teenager nie großartig nach diesen Städten geguckt. Wir hingen lieber mit diesen lokalen Kultbands rum. Die haben uns obskure Bands genannt. Viel bekam man über den klassischen Weg mit: ältere Freunde oder Geschwister, die ihre Platten vom College mitbrachten und an uns weitergaben. Man musste gar nicht in diese Städte, hier in Wisconsin war genug los.“

Was es mit den vielen Nummern und Symbolen in den Songtiteln auf sich hat? Vielleicht ist das bloß ein weiterer Verweis auf Vernons Sinnsuche

Im Gegensatz zu den beiden Vorgängeralben klingt 22, A MILLION weniger nach gebrochenem Herzen und verkümmerter Liebe. Eher nach einer Platte, die Fragen stellt und Sinnsuche betreibt. Das ist gar nicht so überraschend, nachdem Justin Vernon das Projekt Bon Iver öffentlich infrage gestellt hatte. Am Ende des Abends, als er das neue Album mit seinen zehn Tracks einmal komplett durchgespielt hat, bedankt sich Justin Vernon artig bei seinen Fans: „Thanks for checking out the album, be safe and good night.“ Ansonsten redet er nicht viel. Ob er gelöst ist nach dem Auftritt, kann man nicht sagen. Angespannt wirkt er keineswegs. Zumal er weiß, dass er ein gutes, originelles Album aufgenommen hat. Was es mit den vielen Nummern und Symbolen in den Songtiteln auf sich hat? Vielleicht ist das bloß ein weiterer Verweis auf Vernons Sinnsuche. Dass er gerne in Eau Claire ist, scheint nach der Portugal-Episode indes klar.

Er interessiert sich nicht sonderlich für ein Promi-Dasein an der Ost- oder Westküste. Da ist er vornehmlich, um Meinungen über seine Musik einzuholen, neue Sachen auszuprobieren, und Ideen auszutauschen, damit auch ja alles neu und frisch klingt.
 Genauso wie vor ein paar Wochen, erzählt Trever Hagen zum Schluss. Er und Vernon seien in L.A. in einem riesigen Filmstudio aufgekreuzt, um Kanye West zu treffen. In dem Studio hätten lauter nackte Menschen in einem Bett gelegen. Was sie damals nicht wussten, dass es der Dreh für Wests kontroverses „Famous“-Video sein würde, in dem ein unbekleidetes Taylor-Swift-Double die Hauptrolle spielt. In einer Pause hätten Hagen, Vernon, West und der Regisseur des Videos für ein paar Minuten zusammengestanden und sich unterhalten. Kurz bevor der Dreh weitergegangen sei, hätte ausgerechnet Kanye West die bedeutendste Frage überhaupt aufgeworfen: „Yeah, man, so what is the future of music?“ Das, so scheint es, könnte die 22, A MILLION-Dollarfrage sein.