Billy Joel
Natürlich beherrscht seit über einem Jahr das Samstagnacht-Fieber Amerika, Aber daneben gab es 1978 in der US-Musik-Szene doch noch zwei überragende Persönlichkeiten: im Frühjahr und Sommer Bruce Springsteen, seit Herbstbeginn Billy Joel. Vier Platten lang hat Billy Joel versucht, den großen Erfolg zu erkämpfen. Dann war er durch, mit der LP „The Stranger“, die sich nach 67 Wochen noch immer unter den ersten 30 der US-Hitlisten tummelt. Und das, obwohl die nachfolgende Produktion, „52nd Street“, zur Jahreswende 78/79 wochenlang Platz eins blockierte. Im Februar nun startet Billy Joel seine erste große Deutschlandtournee. Hermann Haring reiste vorab in die USA, um herauszufinden, wer da auf uns zu rockt.
Billy Joel war müde an diesem eiskalten Donnerstag in New York. Aber noch nicht müde genug, um das Handtuch zu werfen. Denn am Ende einer Mammuttournee durch die Vereinigten Staaten,durch 44 Städte in zweieinhalb Monaten, stand noch ein Heimspiel auf dem Programm: drei Tage im ausverkauften Madison Square Garden, mit 20.000 Zuhörern bei jedem Konzert. „New York State Of Mind“ heißt ein Song von Billy Joel; eine Liebeserklärung an die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Die Rundfunkstationen zwischen East River und Hudson River senden Werbespots der Stadtverwaltung, in denen Billy zum Engagement aufruft für diese gewaltige Megapolis, die an sich selbst, an ihrer Wohltätigkeit und ihrer Toleranz gegenüber jedermann zu ersticken droht; begraben unter den Schulden bergen und den sozialen Hilfsprogrammen, bedroht von den zerschlagenen Hoffnungen all der glücklosen Zuwanderer aus allen Teilen der Welt. „I’m taking a Greyhound on the Hudson River line/I’m in a New York State of mind“ eine Stadt aber auch, in der es sich lohnen kann zu leben, denn sie bietet mehr als jeder andere Fleck auf dieser Erde. Also wird Billy Joel erst nach den drei Konzerten im Madison Square Garden müde werden; „den Januar“, sagt er, „den werde ich verschlafen.“
Die kreisrunde Halle am Madison Square liegt im Zentrum Manhattans und damit im Herzen New Yorks. Sechsunddreißig Stunden lang gab es Karten für Billys Joels dreifache Heimkehr; dann waren die 60.000 Tickets vergriffen. Gerangelt um die Plätze haben überraschend viele Kids im besten Highschool-Alter; Billy Joel, 29 Jahre alt, hat heute nicht nur seine eigene Generation hinter sich, die mit den Beatles großgeworden ist. sondern auch jenes nachgewachsene Rockvolk, das die wilden Sechziger bereits aus historischer Perspektive sieht und über das blaue und das rote Doppelalbum kennengelernt hat. An diesem Abend, der Billy Joel den Auftakt in New York bringt, haben er und seine Band es schwer, sich gegen die jüngere Hälfte des Publikums durchzusetzen; dessen schrille Begeisterung prägt dieses Konzert und taucht jeden Song am Anfang und am Ende in ein grelles akustisches Schlaglicht – auch die souverän gesungenen und von kraftvollem Pianoanschlag belebten Balladen, an deren Melodien man auch über den Schlußakkord hinaus hängenbleiben möchte.
Immerhin; Billy Joel bekommt die Stille, wenn er sie braucht. Er sitzt recht brav auf seinem erhöht aufgebauten Pianoschemel, um den Hals die gelockerte Krawatte, im Gesicht die charakteristischen Hundeaugen, die daran erinnern, wieviel Ähnlichkeit er doch mit „Rocky“-Star Sylvester Stallone hat. Die Anzeigentafel an der Hallendecke, auf der die Elektronik zur Begrüßung seinen Namen aus Notenzeichen geformt hatte, ist erloschen; nur ein einziger Spot fließt aus dem Dunkel heraus und leuchtet den piano man weich aus. Billy intoniert „The Stranger“; die Akkorde perlen aus dem Piano, er pfeift sehnsüchtig die ersten Takte ins Mikrophon und hat schon mit dem ersten Anlauf 20.000 Menschen um den kleinen Finger gewickelt. Vergessen sind die Menschentrauben draußen auf den Avenues, vergessen sind die Untergrundbahnen, die unter dem Madison Square entlangdonnern. Kein Gedanke mein an den Rummel um den neuen Superstar, an die Platinalben hoch oben in den Charts, an die internationale Pressekonferenz mit Franzosen, Deutschen und einer ganzen Legion Japaner, an die bohrenden Blicke einer jungen Dame aus dem Hause CBS, die Billy Joel gern on the cover of Music Express wiedersehen würde.
Das fühlt sich an wie Gehirnwäsche: es gibt nur noch diesen eigentlich recht kleinen Mann dort oben, den derzeit heißesten Rockstar im großen Amerika, der ein Konzert beginnt, indem er sich auf einen Schemel setzt und ein Lied pfeift. Und plötzlich ist dann die Power da, setzt exakt wie ein Präzisionswecker die Band ein, kommt der erste big shot (im positiven Sinne des Wortes).
Billy Joel setzt sich mit wenig Aufwand in Szene. Handbewegungen, ein paar Grimassen, hintergründiges Lächeln, einige Spurts über die Bühne von einem Piano zum anderen. Als erfolgreicher Piano-Mann hat er zwei von diesen teuren Schwarzen aufgebaut; eins erhöht und eins weiter rechts und weiter unten; Rock in drei Dimensionen, oder auch Dialektik im Showbusiness. Billy Joel hat Sinn für Humor und kennt auch sein Rollenspiel; die Mischung aus beidem kommt mehrfach durch an diesem Abend, und da nimmt er sich jedesmal selbst auf den Arm.
Ein Mensch mit Feinsinn holt einmal, zweimal, dreimal Platin; läßt 20.000 Leute ausflippen, obwohl er sich nur vorübergehend mal ’ne Lederjacke anzieht und ’ne dunkle Sonnenbrille aufsetzt. Säßen die Jungs von Kiss in diesem Konzert, dann sähen sie vermutlich den Untergang des Abendlandes heraufziehen; aber so ist das nun mal, wenn einer antritt mit Charisma und echtem Feeling und einem musikalischen Gehirn.
Nach dem zweiten Song steht Billy Joel auf und badet erstmals in den Ovationen. Wenn die Konzentration plötzlich von ihm abfällt, sieht man, wie ausgepumpt er nach dieser Tournee ist; aber er schüttelt die Erschöpfung nach zehn, zwanzig Sekunden wieder ab und schiebt sie hinüber in den Januar, den er ja verschlafen will. „Piano Man“: den ersten Chorus spielt er auf der Mundharmonika, ehe sich erneut sein kraftvoller Pianoanschlag und seine feste, volle und nur ganz sachte angerauhte Stimme durchsetzen. Vorübergehend kommt ein Hauch Folk-Rock-Atmosphäre hoch, schwebt der Geist des frühen Dylan unter der Decke. Doch dann scheucht Billy ihn mit einem jazzigen Solo wieder fort.
Die LP „Piano Man“, 1975 veröffentlicht, dokumentiert ein wichtiges, aber noch nicht entscheidendes Stadium in Billy Joels Entwicklung. Verschiedene Spielarten des Rock, die er später nahtlos verschmelzen sollte, stehen hier noch in ziemlich reiner Form nebeneinander; ein Country-Song ist hier ein Country-Song, der Folk-Rock klingt wie Folk-Rock, und nur die Ballade „The Ballad Of Billy The Kid“, die bringt keinen Showdown jenseits der dixie line, sondern einen etwas orientierungslosen Galopp quer durch die Rocklandschaft, mit wuchtigen Nackenschlägen vom Orchester. Aber: diese melodramatische Geschichte, die Billy über Billy da erzählt, ist von A bis Z erlogen, war von Anfang an als kleiner Scherz geplant für alle, die nach Autobiographischem suchen würden. Aus Billy dem Piano-Mann wurde darum auch nicht Billy The Kid, sondern Billy The Entertainer, der schon 1976 mit „Turnstiles“ sein erstes „klassisches‘ Album vorlegte. Dessen erster Song heißt „Say Goodbye To Hollywood“, was alles sagt – keine Wildwest-Histörchen mehr, sondern Stories über das Leben auf und neben den Großstadtstraßen; manchmal allerdings aus ausgefallener Perspektive. „They burned the churches up in Harlem/Like in that Spanish Civil War/The flames were everywhere/But no one really cared“, singt Billy Joel in seinem Song „Miami 2017“ – er sitzt in jenem Jahr im warmen Florida und erinnert sich an die harten Zeiten in New York, wo schließlich nach und nach auf dem verfallenden Broadway die Lichter ausgingen.
Aber noch ist es nicht so weit, noch reckt er die Piano-Faust. „Der nächste Song“, meint er triumphierend, „ist all denen gewidmet, denen irgendjemand ins Handwerk pfuscht. Ihr wißt schon Bescheid!“ Er schiebt eine harte Rechte in die Luft – er hat mal richtig geboxt, was man seiner Nase auch ansieht und singt „My Life“. Der erste Single-Hit, den „52nd Street“ abwarf: Da ruft ein alter Freund an, der die Nase voll gehabt hatte vom Leben an der amerikanischen Ostküste und der nach L.A. gezogen war. Nee, sagt Billy, auf Deine Ratschläge kann ich verzichten: „I don’t need you to worry for me cause I’m alright/I don’t want you to tell me it’s time to come home/ I don’t care what you say anymore, this is my life/Go ahead with your own lile and leave me alone.“
Auf der Bühne steht jetzt in der Lederjacke der greaser, der sich seiner Haut zu wehren weiß. Das Publikum schreit Zustimmung.denn nur so läutt es draußen im Alltagskampf, und außerdem weiß jeder, daß Billy Joel nun an seinen eigenen Weg nach oben erinnert. Aufgewachsen ist er in Long Island, dort, wo sich die tödlich langweiligen New Yorker Vorstädte hinziehen. Ein Haus wie das andere, kein Spaß, nur phantasielose Gebäude, Supermärkte und Mütter mit Lockenwicklern im Haar. Billy Joel schloß sich einer Straßengang an, weil die ‚was losmachte; außerdem hänselte ihn danach niemand mehr wegen seiner eindeutigen Schwäche für Musik. Die Schwäche wurde am Ende so stark, daß die Gang mitsamt ihren geknackten Automaten ihre ganze Anziehungskraft verlor; Billy Joel ging auf den Rock-Trip, und es sollte 15 Jahre dauern, bis die erste Platin-Scheibe („The Stranger“) aus ihm einen gemachten Mann machte.
Billy Joel gehört einer neuen Generation von amerikanischen Singern und Songwritern an. Er blickt weniger nach innen in die eigene Psyche und mehr nach außen vor seine Haustür. Er zieht sich nicht mehr auf eine Farm in den Bergen von Colorado zurück, um dort melancholisch zu klagen, sondern bleibt im Bauch des big apple (wie New Yorkgenannt wird), um dort zu überleben. Natürlich ist ein Billy Joel angepaßter als ein Neil Young; sein Freiraum ist enger, denn seine Nachbarn sind zehn Millionen zusammengepackte Amerikaner und nicht die Rocky Mountains. Billy Joel hat es geschafft nach langen harten Jahren, in denen er gelernt hat, das Geschäft zu durchschauen, mit dem er Geld verdient. Er weiß, was er macht und warum er es macht. Auch auf diese Weise offenbart er sich als Angehöriger einer neuen Gattung von Superstar. Billy Joel beschreibt den Status quo und richtet nach ihm auch sein Leben aus; hier beginnt allerdings der Graben zwischen ihm und Bruce Springsteen, der auf den ersten Blick den gleichen Typus eines spätsiebziger Rockstars zu verkörpern scheint, am Ende aber seine Emotionen zukunftsgerichteter und zügelloser umsetzt.
Trotzdem: auch wenn Billy Joel mit seiner Popularität der New Yorker Stadtverwaltung unter die Arme greift und damit nicht gerade den rebellischen Geist des Rock’n’Roll wachhält, weiß er mit dem Erbe von zwei Rock-Rebellionen sensibel und ohne falsche Zwischentöne umzugehen. Da gibt es diese die Nerven hochzüngelnden Dialoge zwischen ihm, seinem Pianospiel und seiner Stimme auf der einen und dem grandiosen Saxophonisten Richie Cannata auf der anderen Seite. Da ist die Unbekümmertheit, mit der er, der Hitlieferant, seine Songs immer wieder mit jazzigen Einlagen ausstattet, also sein musikalisches Leben lebt. Da ist nicht zuletzt seine Fähigkeit, Balladen stimmig zu interpretieren; einer der schwierigsten Jobs in der Rockmusik, den Billy Joel zur Zeit im Griff hat wie kaum jemand sonst. Zum Beispiel „Until The Night“: Phil Spector steckt da drin und auch Bruce Springsteen; man denkt an die Righteous Brothers und an „Under The Boardwalk“, um dann doch festzustellen, daß hier auf unvergleichliche Art Billy Joel singt.
Das Ende des Abends im Madison Square Garden läutet gleichwohl Power-Rock ein: „Big Shot“, im negativen Sinne des Wortes. „This song’s for everybody who ever walked with a hangover!“ Plastisch beschreibt Billy Joel den schweren Weg vom Schlafzimmer ins Badezimmer nach einer Nacht, in der man kräftig einen drauf gemacht hatte. Zuviel Suff, zuviel von allem. Da kommt der Schlag des kalten Wassers ins Gesicht, sprudelt bitter die Alka-Seltzer-Tablette. Der Blick in den Spiegel zeigt ein gräßliches Gesicht. „Big shot….such a fuckin‘ big shot“ -Billy Joel springt hinter dem Piano hervor und tobt sich zum erstenmal auf der Bühne aus. Die fünfköpfige Band dreht auf -Sonderapplaus für Richie Cannata, Doug Stegmeyer(b), David Brown (g) sowie einen weiteren Gitarristen und den Drummer, deren Namen ich leider nicht richtig mitbekommen habe. Dies müßte eigentlich das Ende sein, aber Billy hat noch eine Ballade in der Hinterhand und die Kids singen mit: „A bottle of white, a bottle of red/You and I face to face.“ Die letzten Songs kommen nonstop. Der Madison Square Garden kocht, da kann auch keine Ballade mehr dämpfen. Schließlich sagt Billy „Good night“ und kann selbstverständlich noch nicht Schlafengehen. Zugabe, und noch eine, und noch eine und noch eine vierte. Darunter „Miami 2017“ und „Say Goodbye To Hollywood“. Dann geht nichts mehr. Die einen sind erschöpft von der Musik, die anderen vom Schreien. Und auch das Benzin in den Feuerzeugen, die tausendfach nach jeder Zugabe aufleuchteten, ist verbraucht.
Anfang 1978 war Billy Joel in Deutschland. Er spielte in kleinem Rahmen – Clubs, größere Säle. Seine Eltern haben eine Zeitlang in Nürnberg gewohnt, nachdem sie Elsaß-Lothringen verlassen hatten (Billy Joel heißt er richtig). Die Nazis vertrieben die Eltern, weil sie Juden waren, und sie zogen in die USA. Billy Joels Vater lebt heute in Wien, und er will ihn besuchen, wenn er jetzt durch die Bundesrepublik tourt. Er freut sich auf Deutschland, zumal die Songs von ,,52nd Street“ mittlerweile auch bei uns häufig im Radio laufen. Man wird ihn diesmal besser zur Kenntnis nehmen als vor Jahresfrist. Hoffentlich ist er ausgeschlafen.