Billie Eilish: Im Spinnennetz der Gegenwart
Billie Eilish ist ein Pop-Superstar neuer Bauart: Geboren 2001, mitten hinein ins digitale Zeitalter, heute immer noch nicht volljährig, 17 Millionen Instagram-Follower und sensationell erfolgreich mit ihrem Teenage-Angst-Pop. In Berlin spielte sie das erste Konzert im Rahmen ihres Debütalbums. Ein Blick auf ein Pop-Phänomen.
Als Popkritiker hat man ja ehrlicher- und dummerweise bisweilen die Tendenz, die mögliche Interessantheit neuer Musik einfach diametral zu ihrer Popularität in den sozialen Medien einzuschätzen. Demnach müsste Billie Eilish – 17 Millionen Follower auf Instagram und 2,6 Millionen auf Facebook – ziemlich langweilige Musik machen. Falsch! Hört man genauer hin, wird der morbide Teenage-Angst-Pop, den die 17-jährige Kalifornierin zusammen mit ihrem Bruder, dem 21-jährigen Produzenten Finneas O’Connell aufnimmt, schon allein dadurch hochinteressant, dass er voller Anklänge an Trap und Rap steckt. Aber nicht im Sinne von: Wir pimpen das hier mal ein bisschen zeitgenössisch und „edgy“ auf. So würde man das als alter Mensch machen. Sondern: Bei Billie Eilish sind Trap- und Rap-Beats, HipHop- Video-Dance-Moves und Kanye-West- Yeezy-Gefängnis-Looks in Creme- und Karamellfarben einfach der ganz selbstverständliche Hintergrund, vor dem andere Dinge geschehen können.
„Ich hasse Genres!“
Etwa: Mit brüchiger, leiser Stimme in ASMR-Kribbel-Intensität schwer suizidale Zeilen singen und noch Folk-Gitarre und Goth-Schauer hinzukommen lassen. Normal? Normal. Weil Billie Eilish einfach so jung ist, dass HipHop schon längst das grundlegende Paradigma war, als sie überhaupt anfing zu hören und zu denken. Da passiert alles auf dieser Ebene. Abgesehen davon kapiert Eilish als jemand, der in das Streaming-Zeitalter hineingeboren wurde, ohnehin nicht mehr, warum man Musik in Genres einteilen sollte. „Ich hasse Genres!“, erklärt sie in Interviews und sagt, dass sie die Beatles ganz genauso liebt wie den 2018 ermordeten Rapper XXXTentacion.
Spinnen und ozean-wischi-waschi-blau gefärbte Haare
Und was ist mit The Cure, möchte man fragen. Der Vergleich mit deren Spinnen-Schocker „Lullaby“ drängte sich im Februar in Berlin jedenfalls auf, als Eilish im ausverkauften Kesselhaus ihre Tour zum Debütalbum WHEN WE ALL FALL ASLEEP, WHERE DO WE GO? eröffnete. Da hatte sie ihre Spinnenbühne dabei. Die besteht aus einer Spiegelkugel-Spinnenaugen-Plattform in der Mitte, von dort aus greifen lange Spinnenmetallbeine zur Seite aus. Die beherbergen, wie Zelte, den Schlagzeuger und, auf der anderen Seite, Billies Bruder an Keyboards und Gitarre. Und dazwischen hüpft Billie mit ihren ozean-wischi-waschi-blau gefärbten Haaren wild umher und singt „You Should See Me In A Crown“, die Single, für deren Video sie sich eine Vogelspinne in den Mund geschoben hat (80 Millionen Klicks auf YouTube). Auch „Bury A Friend“ singt sie, die Albtraum-Lullaby-Single, in der sie sich ein Ende setzt: „I wanna end me“ – und Hunderte Teenager grölen und kreischen mit.
The kids are alright
Müssten Eltern ihre Kids nicht vor solcher Hardcore-Teenie-Musik beschützen? In Berlin sind die Eltern mitgekommen, halten ihre Kinder im Arm, singen die Texte mit und machen fast noch mehr Handy-Videos und Livestreams als die Kleinen. Wow. Jetzt, da Billie Eilishs Debütalbum erschienen ist, wird es aus dieser Welt, die einem gerade vielleicht noch etwas fremd vorkommen mag, ganz selbstverständlich die Gegenwart des Pop machen. The kids are alright.
Unser Autor Jan Kedves hat Billie Eilish zum Interview getroffen. Dieser Text hier erschien im Musikexpress 4/2019, sein ausführliches Feature im Musikexpress 5/2019, seit dem 11. April 2019 am Kiosk.