Beruht alles auf Gegenseitigkeit


Sie kommen aus verschiedenen Generationen und Backgrounds, aber der ewige "Boss" Bruce Springsteen und Arcade-Fire Meisterkopf Win Butler haben so einiges gemein. Backstage in New Jersey trafen sich die beiden gegenseitigen Fans erstmals zum Gipfeltreffen.

Willkommen, Kanadier!“ Sogar einfach nur beim Soundcheck behandelt Bruce Springsteen ein Venue in New Jersey als seine Heimstatt – und Win Butler und Regine Chassagne von Arcade Fire, die gerade eingetrudelt sind, sind die Ehrengäste. „Seid ihr mit eurer Tour fertig?“, ruft Springsteen jovial von der Bühne.

Das Saallicht ist an, Butler steht im Parkett der Continental Airlines Arena, ein paar Stunden vor Springsteens Auftritt mit seiner E Street Band – ihrer ersten offiziellen gemeinsamen Hometown-Show in fünf Jahren -, und ruft zurück, ja, Arcade Fire hätten gerade vor drei Tagen den amerikanischen Teil ihrer Tournee abgeschlossen, in zwei Wochen gehe es nach Europa. Springsteen nickt, dann zählt er ein und führt seine Band durch eine derart mitreißende Version von „Backstreets“, dass es eine Schande ist, dass nur fünf Leute Zeuge der Darbietung werden.

Seit seinem 1975er Durchbruchsalbum born to run ist Bruce Springsteen eine ganze Menge gewesen: die Zukunft des Rock’n’Roll, ein Folkie, ein missverstandener Patriot, extrem populär, nicht so besonders populär, Arbeitstier, Hausmann und Vater, ein Heißsporn und ein heißer Markenname. Aber vor allen Dingen war er einfach. Sein 15. Studioalbum magic , am 1. Oktober 2007 erschienen, ist klassisches Boss-Material und enthält einen der vielleicht besten Songs, die er je geschrieben hat (das üppige „Girls In Their Summer Clothes“). Gleichzeitig verehrt ihn eine neue Generation von Bands – Arcade Fire sicherlich in erster Reihe – für sein vielseitiges Werk ebenso wie für die Tatsache, dass er irgendwie alles richtig hingekriegt hat: nie sich selbst Schande gemacht, nie denen Schande gemacht, die zu ihm aufschauen. Und ebenso hat Springsteen – ohnehin mehr großäugiger Geek als würdevoller Altvorderer – immer wieder Energie von diesen jungen Musikern bezogen; als er nach dem Soundcheck Butler und Chassagne begrüßt, ist das erste, worauf er zu sprechen kommt, der Youtube-Clip, in dem ein Fan ihren Song „My Body Is A Cage“ mit Szenen aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ unterlegt hat.

Obwohl sie verschiedenen Generationen (Springsteen ist 58, Butler 27) und verschiedenen Backgrounds entstammen (Springsteen: Arbeiterklasse New Jersey, Butler: gut betuchte Bostoner Vorstadt, Gymnasium in Exeter) und obwohl sie recht verschiedene Rollen vermitteln (Springsteen ist Frontmann der bestbezahlten Barband der Welt; Butler und seine Leute kommen eher streng und ernst rüber, umweht von einer vagen Amish-Aura), ist da eine gewisse natürliche Verwandtschaft. Als Arcade Fires zweites Album neon bible im März 2007 erschien, führten viele der lobpreisenden Rezensionen die Songs „Keep The Car Running“, „Intervention“ und „(Antichrist Television Blues)“ als Beispiele für unverhohlene Boss-Huldigungen an. Und obwohl Butler freimütig einräumt, das komme nicht von ungefähr, sind die deutlichsten Parallelen zwischen den zweien nicht strikt musikalischer Natur. Beide Männer stehen vielköpfigen Bands vor, die sich aus Freunden und Familienmitgliedern zusammensetzen und selbst regiert und unabhängig von den Launen der Musikindustrie operieren. Von all den heiß um- und beworbenen neuen Acts der letzten Jahre sind Arcade Fire vielleicht diejenigen, von denen man sich am leichtesten vorstellen kann, dass sie in 30 Jahren noch dabei sind – mit dünnerem Haar, breiteren Hüften, aber immer noch energetisch, auch wenn Bassist/Keyboarder/Akkordeonist/Gitamst Richard Reed Parry dann vielleicht – wie sein E-Street-Band-Gegenpart Clarence Clemons heutzutage – die ein oder andere Auszeit auf einem Hocker am Bühnenrand nehmen muss.

Leicht gebeugt mit hochgezogenen Schultern unter einem schwarzen Kapuzenpulli, blonde Haarsträhnen im Gesicht, sieht Butler heute nicht nur nicht ernst und streng und Amish-artig aus, er wirkt auch nicht wie 27. Entschlossen, ihr Publikum – und sich selbst – nicht überzustrapazieren, fahren Arcade Fire nach neuen Monaten on the road ihre Touraktivitäten in diesen Tagen zurück und werden voraussichtlich den Großteil von aoo8 mit Songschreiben und Aufnahmen verbringen; in ihrem Studio, einer umgebauten Kirche außerhalb von Montreal. „Die wahre Bewährungsprobe bei der Sache ist, in dieser Blase aus Bullshit und Zeugs sein eigenes Leben zu finden“, hat Butler noch vorhin in einem Cafe in Manhattan gesagt, kurz vor der Abfahrt nach Jersey. „Wir haben beim letzten Album viel harte Arbeit in die Einrichtung dieses Studios gesteckt, damit die kreative Ebbe und Flut der Band auf natürliche Weise vonstatten gehen kann.“

Butler hat den Boss schon einmal getroffen, bei einer Grammy-Party 2005, aber er war sich nicht sicher, ob Springsteen sich erinnern würde. Springsteen erinnert sich. Tatsächlich ist es sein Interesse, sich mit Butler zu unterhalten, das uns heute hier zusammengeführt hat. Ich habe weniger die Rolle des Interviewers inne, vielmehr belausche ich ein Gespräch.

Als Wachposten vor Springsteens Garderobe steht auf einem Klappstuhl aus Metall ein Plüsch-Panda – eine Hommage an Terry Magovern, Springsteens alten Freund und Adjutanten, der letzten Juli starb. Der Panda gewährt uns sicheren Durchgang, und als wir in die dicken, schwarzen Ledersofas sinken, packt Butler seine Gastgeschenke aus: drei Bücher, George Orwells Manifest „Why I Write“, Cormac Mc Carthys postapokalyptischen Roman „The Road“ („Die Straße“, 2006) und Tracy Kidders inspirierende Weltheilungsgeschichte „Mountains Beyond Mountains“. Springsteen blättert in den Büchern und strahlt. An einer Kleiderstange an der Wand hängen schwarze Westen, schwarze Hemden und schwarze Jeans. „Mal sehen, ich glaube, ich geh‘ heute in Schwarz“, grient er.

Ihr habt beide sehr früh in euren Karrieren einen Riesenhype abbekommen. Wie geht man mit einem solchen Übermaß an Aufmerksamkeit um, wenn man selbst noch kaum weiß, was man tut?

win Butler: Dass meine Frau (Chassagne – Anm.) mit auf Tour ist und dass die ganze Band um mich rum ist und die Erfahrung teilt, hat den ganzen Lärm außenrum etwas weniger durchdringend gemacht. Das war dann so: Wir sind in unserer eigenen Welt, geben Songs raus an die Leute und all das kam von da draußen zurück. Es war fast, wie einen Film zu sehen. bruce Springsteen: Das ist wahr. Als ich 24,25 war, fand ich plötzlich mein Gesicht auf dem Cover von Times und Newsweek wieder, was ich gleichzeitig aufregend und peinlich fand. Jeder hat anders darauf reagiert. Ich weiß noch, Steve (Van Zandt, Gitanist der E Street Band, Anm.) kaufte gleich mehrere Hefte und verteilte sie am Pool im Sunset Marquis, so: „Das ist das Größte! Wir haben’s geschafft!“ Mir ging’s mehr so in die Richtung: „Ich glaub, ich geh mal eine Weile rauf in mein Zimmer.“ Ich denke, wenn ich allein gewesen wäre, wäre das alles viel härter gewesen. Aber die Band dabei zu haben – und zu wissen, dass alldem hier zehn Jahre des Rumkrebsens vorausgegangen waren, zu wissen, dass wir heute Abend rausgehen und genau das machen würden, was wir seinerzeit vor 150 Leuten in Asbury Park (Kleinstadt in New Jersey -Anm.) gemacht haben, das ließ einen gewissermaßen bei Verstand bleiben. Es ist ja das, was man wollte, aber zugleich ist es doch schön, wenn man seine Freunde um sich herum hat. Ihr habt ja nicht nur eure Freunde um euch, sowohl auf der Bühne als auch auf der geschäftlichen Seite, es sind ja auch eure Ehefrauen in euren Bands. Und Wins Bruder Will spielt bei Arcade Fire. Macht es dieses Erweiterte-Familie-Arrangement für das Bandgefüge einfacher oder steigt damit eher das Potenzial für Spannungen? Butler: Der Punkt, an dem wir als Band am nächsten dran waren, nicht mehr zu funktionieren, war, als wir unseren ersten größeren Popularitätssprung hatten und es damit losging, dass wir zusätzliche Leute als Tourcrew brauchten. Die ersten paar Gitarrenroadies waren absolute Söldner. Wir kannten diese Leute alle nicht und verbrachten plötzlich ewig viel Zeit mit ihnen im Bus. Wir fragten uns: „Wer sind wir? Was passiert hier? Das hier hat nichts damit zu tun, warum wir Musik machen!“ Über die letzten Jahre haben wir es so hingekriegt, dass viele der Leute, mit denen wir arbeiten, persönliche Beziehungen zu uns haben. So können wir auf Tour wir selbst sein, in unserer Haut bleiben. Und wir haben viele Frauen dabei – sonst wird das alles zu so einer komischen, schrecklichen Jungs-Party. Springsteen: Wir haben als Jungsclub angefangen, und das ging bis 1984, als Patti (Scialfa, Springsteens heutige Ehefrau) zur Band stieß. Sie zieht mich heute noch damit auf- am ersten Abend, an dem sie mit uns spielte, sagt sie, kam sie in meine Garderobe, sie trug so eine tüdelige Rüschenbluse und fragte: „Was meinst du? Passt das?“ Und ich deutete auf einen Koffer mit meinen ganzen T-Shirts und meinte „Hm, warum suchst du dir nicht lieber was hiervon aus?“ Wir machten da einen Wandel durch, aber es war ein langsamer Prozess. Wir wollten ja auch wirklich weg von diesem Jungs-Party-Ding. In den Anfangszeiten bestand unser Publikum oft fast ausschließlich aus jungen Typen, was in meinen Augen auch aus einem gewissen homoerotischen Unterton resultierte. Aber mit der Zeit brachten sie dann auch die Mädchen mit.

Butler: Das machen zu wenige Bands, das richtig aufzuziehen: Man muss mit den Jungs anfangen und dann auch ihre Freundinnen aufs Konzert kriegen. So gewinnt man die Loyalität.

Springsteen: Ich möchte, dass die Leute auf die Bühne schauen und sich selbst sehen. Die Idee der Band als repräsentativer Community – alle Bands, die ich mag, haben so ein Element. Es ist einfach aufregend, wenn man merkt: Da findet diese spezielle Art Kommunikation statt. Popsongs machen Spaß – und ein Lied wie „Umbrella“ macht mir riesige Laune – aber richtig hingezogen fühle ich mich zu Bands, bei denen ich fühle, dass sie eine aktive kollektive Fantasie mit ihrem Publikum am Laufen haben. Das liebe ich so an Arcade Fire – das erste Mal, als ich euch gesehen habe, dachte ich: „Da oben läuft ja eine ganze Stadt ab, das ist ein ganzes Dorf auf dieser Bühne!“ Da ist diese imaginative Welt, die ihr vor den Augen eurer Fans sichtbar macht, und das ist etwas sehr Schönes.

Bei welchen anderen jungen Bands hast du dieses Gefühl? Und wie fließt das, was du da hörst, in deine eigene Musik ein?

Springsteen: Ich habe drei Kinder im Teenager-Alter und kaufe darüber hinaus viel aus Neugier. Mein Ältester hört viel Polit-Punk, Sachen wie Against Me! Und ich komme neuerdings auf Bands mit größerem Popsound, wie Apples In Stereo, Band Of Horses – düstere, romantische Musik. Und was die Einflüsse angeht: Was reingeht, kommt auch wieder raus. Butler: Ich habe so ein Boxset, goodbye, babylon. Das sind alte Originalaufnahmen aus Kirchen aus der Zeit zwischen 1902 und i960. Regine und ich haben das während der Arbeit an neon bible extrem viel gehört.

Das ist übrigens noch etwas, was ihr zwei in eurem Werk gemeinsam habt: uiel katholische Metaphorik und Symbolik.

butler: Ich bin in Houston aufgewachsen, aber meine Familie war nicht etwa super-religiös. Meine Mutter kommt aus der mormonischen Ecke, mein Vater ist aus New England – sie sind eher so „Es ist gut, wenn sich die Leute nicht gegenseitig umbringen, aber wir glauben nicht wirklich an etwas“-Typen. Aber dieses ganze Ding mit den Megachurches und so war in Texas schon in der Tat alles durchdringend.

Springsteen: Ich glaube, was sich an eurer Musik „christlich“ anfühlt, ist dieses gewisse apokalyptische Element und dass sie die Dinge sehr stark in religiösen Kontext stellt, wie Roy Orbison. Roy Orbison ist der König der romantischen Apokalypse. Wie heißt der Song noch? „It’s Over“. Apokalyptischer geht’s nicht mehr. Wenn das Ende aller Tage in deiner Musik präsent ist – wie es auch immer hineingekommen ist -, bewegst du dich automatisch auch auf einer spirituellen Ebene.

Butler: In meinen Augen ist diese dunkle Seite, die Finsternis, immer präsent, auf die eine oder andere Art. Das liebe ich so an Motown -egal, wie fröhlich ein Song ist, er wurzelt immer auch in der realen Welt.

Springsteen: Ich finde, es muss auch Teil deiner psychischen Natur sein. Ich bin katholisch aufgewachsen und habe über die Jahre in meiner Musik immer wieder auf diesen Hintergrund zurückgegriffen, für Bilder, Metaphern. Mich hat immer dieses spirituelle Schlachtfeld interessiert, das fasziniert mich einfach: Was ist das für ein Ort, an dem du deine Seele verlieren kannst, und wie komme ich da hin, ohne hineinzufallen? Das hat mich immer beschäftigt, und es zieht sich durch alle meine Platten, auch die neue. Butler: Einer meiner Lieblingssongs von dir ist „State Trooper“ (von nebraska, 1982 -Anm.). Wir haben ihn gecovert – das ist wirklich ein verdammt dunkler Song. Einfach nur die Fahrt hierher heute, über den New Jersey Turnpike – da ist dieses Gefühl, mittendrin zu sein, der Eindruck von Echtheit, Realität, und allein das hat schon eine sprituelle Komponente. Springsteen: Robert De Niro hat einmal gesagt, was er an der Schauspielerei so möge, sei, dass er dadurch in die Schuhe anderer Leute steigen könne, ohne die Konsequenzen spüren zu müssen, die das im wahren Leben hätte. Kunst ermöglicht einem das, an den Abgrund heranzutreten und hineinzuschauen, ohne selbst hineinzufallen – hoffentlich. Ist dieses Hineinfallen nicht eine besonders konkrete Gefahr, wenn man sich eure Arbeitsweise ansieht?

Springsteen: Doch, jederzeit. Mein Eindruck ist, Arcade Fire ist genau dafür geschaffen, dieses Hineinfallen zu verhindern. Da ist dieser zornige, ungezügelte Aspekt in der Performance, und deshalb kommen die Leute zu euch – ihr habt ein Gespür für die Realitäten in ihrem Gefühlsleben und ihre Schwierigkeiten, ihr stellt diese Probleme dar, ihr legt sie ihnen vor, aber ihr habt auch einen Survival-Kit mit dabei. Bands, die das leisten, schmieden enorm intensive Beziehungen zu ihrem Publikum, und in meinen Augen ist das immer der Kern des besten Rock’n’Rolls gewesen. Aber herrscht momentan nicht ein gewisser Zynismus gegenüber dieserArt uon Quasi-Populismus? So viele Bands reden dauon, wie wichtig ihnen angeblich diese intensive Connection zum Publikum ist, dass das Ganze zu einem Klischee in sich selbst geworden ist. Ehrlichkeit wird da leicht mal mit Ranschmeißerei und Opportunismus verwechselt. Butler: Ich finde nicht, dass Rock irgendwas mit Populismus zu tun hat. Mein Großvater war Leader einer Big Band. Und wenn man sich mal Irving Berlin ansieht und die Art, wie damals Songs geschrieben wurden – das war alles so viel ausgefeilter, anspruchsvoller, so viel mehr sophisticated als Rock. An Rock’n’Roll war dagegen neu, dass er eine inhärente Körperlichkeit anbot, eine Ausdrucksmöglichkeit für tief sitzende, urtümliche, rohe Emotionen. Mein Opa hasste Rock – er konnte in musikalischer Hinsicht nicht einmal Jazzbands für voll nehmen. Aber ich weiß noch, wie ich einmal bei ihm zu Hause war – ich war 16 oder so-und im Fernsehen lief ein Song von dir, ein Konzertausschnitt, und mein Großvater meinte: „Ich mag die Musik nicht, aber ich verstehe, warum die heute es tun.“ Da sitzt dieser 90-jährige Knabe, festgefahren in seinen Ansichten, und sagt: „Weißt du was? Ich kapiere, was da abläuft.“ Da wird deine Musik zur Brücke. Springsteen: Damit’s klappt, muss man zwei sich widersprechende Gedanken im Hinterkopf haben, bevor man auf die Bühne geht. Du musst denken „Okay, ich werde gleich da rausgehen und eine der allerwichtigsten Sachen machen, die ich mir vorstellen kann.“ Und zugleich: „It’s only Rock’n ‚Roll. Ich hoffe, wir spielen eine gute Show und die Leute sind happy danach.“ Ich versuche immer, diese zwei Sachen im Kopf zu haben, und – populistisch oder nicht – meine Aufgabe ist, es dir zu beweisen. Wir sind darauf aus, diesen Punkt zu finden, an dem wir mit den Leuten in Kommunikation treten, sie packen und festhalten – vorzugsweise an der Gurgel. Butler: Mit ein Grund, warum ich dir dieses Orwell-Buch mitgebracht habe, ist, dass da diese Zeile drinsteht: „In einer Zeit allumfassender Täuschung ist es ein revolutionärer Akt, die Wahrheit zu sagen.“ Und noch einer: „Es ist die erste Pflicht intelligenter Menschen, das auf der Hand Liegende immer wieder neu zum Ausdruck zu bringen.“ Trotzdem müssen sich Leute immer wieder viel Mist anhören, weil sie eben genau das tun. Bruce, du hast vor Kurzem in einem Interview in „60 Minutes“ (investigatives Nachrichtenmagazin auf CBS -Anm.) darüber gesprochen, dass immer noch Leute verteufelt werden, die sich gegen den Irak-Krieg aussprechen -und sogar das hat die Konservativen schon wieder in Aufregung versetzt. Gibt es denn noch Hoffnung, dass wir mal wieder an einen Punkt kommen, wo ein echter Diskurs zwischen gegensätzlichen Sichtweisen stattfinden kann?

Springsteen: Man muss sich zumindest so verhalten, als gebe es sie. Mit den unglaublichen medialen Gegebenheiten heute, die es jedermann ermöglichen, seine Ansichten in die Öffentlichkeit zu bringen, werden wir uns in Zukunft wohl noch mit viel mehr dummen Leuten herumschlagen müssen. Aber das ist einfach die Suppe, in der wir schwimmen, damit muss man umgehen. Man muss dranbleiben und sich für seine Überzeugungen einsetzen und das kleine Schräubchen drehen, das man drehen kann. Butler: Ich habe in der Schule russische Literatur der I92oer-Jahre belegt. Yevgeny Zamyatin hat „We“ geschrieben, den ersten dystopischen Roman, die erste negative Utopie darüber, wie beschissen alles den Bach runtergeht – und sie haben ihn umgebracht. Ab und zu fiese Blog-Kommentare abzukriegen, ist ja wohl hinnehmbar im Vergleich dazu, um sein Leben laufen zu müssen oder seinen Roman 50 Jahre lang in einer verdammten Schublade zu verstecken, weil Ausgeburten des Bösen das Land regieren. Deshalb ist es wichtig, seinen Mund aufzumachen.

Man hört momentan viele junge Bands -nicht zuletzt eben Arcade Fire – Bruce Springsteen als Referenz nennen. Was ist es – nach all den Jahren -, das sich gerade jetzt so relevant anfühlt?

Springsteen: Schwer zu sagen. Ich glaube, wenn eine Generation auf die Musik anderer Generationen draufknallt, ist da erst mal die Tendenz, sich davon zurückzuziehen und sich fernzuhalten. Aber mit einem gewissen zeitlichen Abstand schauen die Leute zurück und suchen nach Inspiration. Wenn man jetzt zurückdenkt, wann wir als Band unseren letzten Schub von Mega-Popularität hatten: Das war 1985. Wer erinnert sich schon daran? Wenn du heute 25 bist, warst du damals zwei Jahre alt. Mit wie viel Drumherum auch immer das alles damals also beladen war – für die meisten Leute ist es heute graue Vergangenheit, sie haben einfach die Musik. Butler: Ich glaube, Nebraska und born to run waren die ersten Platten von dir, die ich gekauft habe. Ich habe deine Musik nicht in chronologischer Reihenfolge gehört, und das finde ich sehr schön so. Sich von solchen übergeordneten Sachen loszulösen, ist gut. Ich weiß noch, wie ich The Clash für mich entdeckt habe und dann alte NME-Artikel aus der Zeit las darüber, was für Sell-Outs sie sind, weil sie auf einem Song eine Akustigitarre haben oder was auch immer. Man denkt nur: Was war denn da bloß los, wie können Leute nur so denken? Dieses ganze Zeug, diesen Ballast außer Acht lassen zu können und einfach nur die Musik zu hören, ist gut. Springsteen: Irgendwann ist man kein Gefangener seiner Zeit, seiner Ära mehr, und das gibt einem enorme Freiheit – die größte Freiheit, die wir als Band je genossen haben. Ich trete gegen niemanden an – ich mache nicht ein Album und denke mir dabei, dass es gegen 50 Cent in den Ring muss. Butler: Die meisten Künstler, die ich respektiere, haben an irgendeinem Punkt in ihrer Karriere kommerzielles Scheitern erlebt oder etwas anderes, das ihnen erlaubte, weiterhin als wirkliche Künstler zu arbeiten. Die, die es irgendwann aus dem Gleis wirft, sind diejenigen, die besessen sind von einer Art abstrakten Idee, auf Biegen und Brechen „on top“ zu bleiben. Springsteen: Ich hab in den letzten 30 Jahren zu zwei oder drei verschiedenen Gelegenheiten gelesen, dass ich jetzt aber wirklich endgültig am Ende sei. Man bringt eben mal ein, zwei Platten raus, die nicht zu Publikumsrennern werden, aber in gewisser Weise ist dieser Wechsel zwischen Ebbe und Flut gesund, weil man auf diese Weise nicht als Sklave der Zahlen endet, der zwangsläufig immer „abliefern“ muss. Ich wüsste niemanden, der schon länger dabei ist und diese Erfahrung nicht gemacht hätte. Green Day: klassisches Beispiel. Sie wurden populär, ich bin mir also sicher, dass sie sich das ganze „Ihr habt Punk verkauft!“-Geblöke anhören mussten. Dann waren sie nicht mehr populär, und es hieß: „Ihr Versager!“ Ich hab’s mit einiger Genugtuung gesehen, wie sie mit all dem umgegangen sind.

Aber können sich Bands im heutigen Klima diese Ebbe und Flut eigentlich noch leisten? Es wirkt nicht so, als gebe es immer noch diesen Luxus, den es darstellt, auch mal scheitern zu können, daraus zu lernen und sich zu entwickeln. Bands werden gehypet und dann quasi umgehend wieder in Grund und Boden gehauen.

Springsteen: Ich beneide junge Musiker beileibe nicht, ich glaube in der Tat, dass es schwieriger geworden ist. In den 70ern gab es viel weniger Medien. Da konnte es passieren, dass ein Typ von einem Radiosender abends mit 30 anderen Leuten auf deinem Konzert war, und wenn es ihm gefiel, hast du später auf der Fahrt aus der Stadt raus deine Platte im Radio gehört. Man konnte sich sein Publikum aufbauen, Stück für Stück. Was wir gelernt haben, war Bühnenpräsenz zu entwickeln. Wie man eine Band führt, wie man zusammenspielt, jeden Abend aufs Neue aufregend ist und Leute für sich gewinnt, die einen noch nie gesehen haben. Ich bin nicht sicher, inwieweit sich diese Möglichkeiten jungen Bands heute noch bieten. Butler: Habt ihr damals, in den frühen Tagen, vorrangig in eurer Gegend gespielt oder seid ihr schon auf landesweite Tourneen losgezogen? Springsteen: Doch, wir sind schon landesweit getourt, aber keiner in der Band hatte je ein Flugzeug von innen gesehen, bevor wir unseren ersten Plattenvertrag hatten – so provinziell und in sich geschlossen und beschränkt war unser Ding damals. Eine Stunde raus aus New York, und du hättest genauso gut im mittleren Westen sein können.

k Hast du, Win, nach zwei umjubelten Alben von Arcade Fire mittlerweile das Gefühl, dass gewisse Leute schon anfangen, die Messer zu wetzen?

butler: Ja, schon, aber es muss einem auch klar sein: Die Leute, die sich obsessiv im Internet ausleben, sind eine relativ schmale demografische Gruppe, verglichen mit den Leuten, die zu unseren Konzerten kommen. Die andere Seite von all dem ist doch, dass heutzutage eine Band wie The Velvet Underground nicht Platten veröffentlichen würde, die dann kein Schwein hört. Es ist heute einfacher, zumindest ein gewisses Maß an Erfolg zu erzielen, weil es viel einfacher ist, die Musik zu den Leuten zu bringen. Das Problem ist nur, dass die Aufmerksamkeitsspannen viel kürzer sind.

Springsteen: Letztlich ist es doch so: Die Leute werden in alle Ewigkeit ihre Messer wetzen und rausholen. Na und? Ihr schreibt eure guten Lieder, ihr spielt eure guten Shows, ihr habt euer Maß an Erfolg – und zwischendurch werdet ihr ab und zu getoastet werden.

ES klopft an die Garderobentür: Jemand erwartet Bruce.

Genauer gesagt: 20.000 Leute erwarten Bruce. Springsteen bietet an, bis zum Konzert morgen abend mit der E Street Band „Keep The Car Running“ einzuproben, dann könnten Butler und Chassagne den Song mit ihm zusammen singen. Butler ist geschmeichelt, lehnt aber höflich ab: Er und Chassagne fliegen zurück nach Montreal, und nach fast einem Monat on the road ist eine Nacht im eigenen Bett einfach die verlockendere Aussicht. Abgesehen davon“, sagt Butler danach, „hätten Bruces Die-hard-Fans in Jersey, die seit $0 Jahren zu seinen Konzerten pilgern, sich wohl ohnehin gefragt: Wer zum Teufel sind DIE Typen denn?“

Fünf Tage später kommen Chassagne und Butler auf das Angebot zurück. Beim Springsteen-Konzert im Scotiabank Place in Ottawa singen sie zusammen mit dem Boss „State Trooper“ und „Keep The Car Running“. Auf wackligen Handy-Kamera-Videos, die am Tag danach auf Youtube auftauchen, hört man ungläubig-begeisterte „Holy Shit!'“-Rufe – eine Begeisterung, die weithin widerhallt, als die Neuigkeit in den Tagen danach die Runde macht. (Butler hatte im Übrigen gehofft, sie könnten „Straight To Hell“ von The Clash zusammen spielen. „Ich sehe so viele Gemeinsamkeiten zwischen Joe Strummer und Bruce, vor allem in diesem Song, der von den Erfahrungen eines jungen Mannes in Vietnam erzählt“, sagt Butler später, wieder daheim in Montreal. „Aber das ist einfach kein Song, den man schnell mal in einer halben Stunde mit einer ganzen Band einstudiert“) Obwohl Arcade Fire schon mit ihren prominenten Super-Fans David Byrne und David Bowie gespielt haben, war die Performance mit Bruce Springsteen, mit Springsteens Band, auf Springsteens Bühne doch noch einmal eine neue Erfahrung. Butler kann aber entspannt damit umgehen. „Es macht Spaß, mal so als Tourist in die Welt von jemand anderem reinzuspazieren“, sagt er. „Aber wir kommen doch aus einer sehr anderen Ecke.“

>» www.arcadefire.com; www.brucespringsteen.net