„Wie nach einem Orgasmus“: Aurora live in Wien
Sie zog im Gasometer in ihren Bann mit Aura, Humor & Hymnen, die es mit Björk & Kate Bush aufnehmen können.
Wie stellt ihr euch einen Rockstar vor? Die meisten wahrscheinlich (noch immer) einen Mann, der in schwarzer Lederjacke auf einer E-Gitarre schrammelt. Auf die norwegische Sängerin Aurora trifft nichts davon zu, und doch ist sie genau das: Ein motherfucking Rockstar! (Das darf man sicher so schreiben, „motherfucker“ rutscht ihr selbst hin und wieder heraus, wenn sie überschwänglich ist – und überschwänglich ist sie oft.) Rockstars können halt auch mal so aussehen wie die Elbenkönigin Galadriel aus „Der Herr der Ringe“. Zumindest wirkt Aurora ein wenig wie von irgendeinem Äther hinabgestiegen, wie sie da am 20. September um 21 Uhr barfuß auf die Bühne schreitet im Gasometer in Wien, im porzellanfarbenen Chiffonrock und mit flügelhaften Tüllfetzen an den Armen.
Mit aufgerissenen Augen
„He told me I belong in a churchyard!“, haut dann gleich der Opener rein wie ein Kampfgesang. Stampfen, Hüpfen, Bauchtanz, Headbangen – Aurora ist für ihre Dynamik bekannt. Man kann die Melodien, Beats, Instrumente förmlich sehen, in ihren Armen, Fingern, Hüften. Ihre Energie macht praktisch alle Songs zu Hymnen, selbst wenn sie, wie oft bei ihr, vom Tod handeln, von Umweltzerstörung, von Entfremdung. Bei „A Soul With No King“ stößt Aurora nach dem ersten Chorus einen Urschrei aus, die Menge kreischt angefixt zurück. Dieser erste Song der Setlist aus ihrem aktuellen, bisher besten Album WHAT HAPPENED TO THE HEART? ist (nach einer anmutigen Acapella-Version von „The River“) gleichzeitig der erste Höhepunkt des Abends. „You speak of the devil like he’s not your friend“, dringt sie während dieses Folk-Dramas mit aufgerissenen Augen in Ohren und Hirn ein.
Die Versiertheit ihrer Stimme kommt auf der mittlerweile fünften Platte der Singer-Songwriterin und Produzentin mehr denn je zur Geltung. Klang Aurora zu Beginn ihrer Wunderkind-Karriere bisweilen noch altersgemäß süßlich, erforscht sie inzwischen tiefere, dunklere Register. Mal glockenhell wie ein Engel, mal bedrohlich gurrend wie aus der Unterwelt experimentiert sie auf WHAT HAPPENED TO THE HEART? mit Art Pop, Dance oder Rock. Mal erinnert sie an Dolores O’Riordan von den Cranberries, channelt dann Wikinger-Vibes, und ist wahrscheinlich eine der wenigen Musikerinnen, die einem Vergleich mit Björk oder Kate Bush standhalten kann. Beim Lied „My Name“ etwa, das sie gemeinsam mit Ane Brun aufgenommen hat, vollführt Aurora live das Kunststück, zwei unterschiedliche Stimmen scheinbar gleichzeitig zu singen. Der „NME“ nannte das Album, auf dem sie unter anderem mit den Chemical Brothers und Brian Eno zusammenarbeitete, „a heavy, ravey call for humanity“ und ja, das passt.
Erst Elfe, dann Eumel
„It really sucks when you can’t drink beer after the show“, erzählt Aurora nun hustend von ihrer verschleppten Erkältung, und dass sie sich den ganzen Tag weggesperrt habe und dabei zum Kobold mutiert sei – mit Buckel und Grummelgrimasse. Das Publikum lacht. Eben noch Elfe, jetzt Eumel. Ein Konzert von Aurora lebt auch von ihrem Humor. Keine Scheu, keine Scham, keine Filter. Da kann es schon mal sein, dass sie die Fotografen bittet, nicht ihre Füße abzulichten, weil sie vergessen hat, ihre Fußnägel zu klipsen. Oder dass sie in Haken über die Bühne flitzt, um zu testen, wie schnell der Lichtkegel sie einholt. Genau genommen ist es nicht mal so, dass sie nahtlos zwischen ernst und albern, leise und laut wechselt – sie ist alles gleichzeitig. „I do see every single one of you“, sagt sie und zeichnet mit dem Zeigefinger durch den Saal, flachst mit einzelnen Leuten, winkt. Man glaubt es ihr sofort, denn ihre Bühnenpräsenz flimmert noch mindestens bis raus zum Kassenhäuschen.
Ein weiteres Highlight ist das ebenfalls neue „When The Dark Dresses Lightly“, mit seinen treibenden Trommeln eine Art sophisticated EDM-Banger. In blutrotes Scheinwerferlicht getaucht, performt Aurora im Triumvirat mit ihren beiden Background-Sängerinnen den hypnotischen Refrain samt synchronen Armbewegungen, während die Leinwand im Hintergrund einen Schwertkampf zwischen Aurora und ihrem Zwilling zeigt. „Nach dem Song fühle ich mich immer, als hätte ich gerade einen Orgasmus gehabt“, bekundet sie selig lächelnd. Apropos EDM: Die Single „Starvation“ gipfelt in einem Rave samt Stroboskop-Gewitter. Wenn das im vornehmen Wien schon ballert, wie wird da erst die Reaktion des Publikums bei ihrer Show am 25. September 2024 in der Techno-Stadt Berlin?
„Raaaaage! I feel ra-a-a-aaage!“, röhrt sie wiederum in „The Blade“, und man kann sich gut vorstellen, wie diese Frau zum Metal ihrer Lieblingsband Gojira feiert. Beim intimen „Dreams“ zur Akustikgitarre hallt ihre Liebe zu Leonard Cohen nach. „Runaway“ verwandelt die Crowd in einen Chor. Bei keinem anderen Song ragen mehr Smartphones in die Luft. Erstmals erschienen 2015 auf der EP RUNNING WITH THE WOLVES und 2016 auf ihrem Debütalbum ALL MY DEMONS GREETING ME AS A FRIEND wurde der Track durch TikTok 2021 ein Hit. Billie Eilish nannte „Runaway“ gar als Grund, warum sie mit dem Musikmachen begann.
Wenn die Tränen zu hören sind
Das letzte Stück des Programms – die dritte Zugabe – spielt die Multiinstrumentalistin allein am Klavier. Erst witzelt sie noch, wie sie am Beginn ihrer Karriere „like shit“ klang, wenn sie sich selbst begleitete. Doch nach und nach drücken sich Tränen in ihre Stimme, während sie „Invisible Wounds“ vorträgt – einem Stück, das sie für ihre Schwester Viktoria geschrieben hat, die unter einer manisch-depressiven Erkrankung leidet: „I squeeze into a small hole/ Through the eyes of needles/ To stitch you up again/ Even though I know so well I can’t fix anything“. Im Publikum wird in Augenwinkeln gewischt. Wann hat man einen Menschen aus der Öffentlichkeit zuletzt so aufrichtig verletzlich gesehen? Ihre großartige vierköpfige Band steigt am Ende ein und trägt das Ding nach Hause. „Was war DAS?“, fragt eine junge Frau in der Menge ihre Freundin nach einer Stunde und 45 Minuten Stunden Show mit offenem Mund. „Ich habe keine Worte dafür“, antwortet diese. Mögliche Worte dafür könnten sein: Aurora gehört offenkundig zu den besten Live-Performerinnen ihrer Generation. Verwunderlich, wie wenig man in der deutschsprachigen Presse über diese Künstlerin lesen kann, die 13 Millionen monatliche Hörer:innen auf Spotify hat, mit einem Oscar prämiert ist (für den Titelsong für „Frozen II“) und sowohl Musik für andere Künstler:innen von USA bis Asien schreibt als auch – selbst Hardcore-Gamerin – für Spiele, u.a. „Assassin’s Creed“. Oder ist es dann doch, weil man sich einen Rockstar anders vorstellt?