Arcade Fire live in Berlin: Wenn selbst die Woken für dich klatschen
Das Berlin-Konzert von Arcade Fire stand wegen der Vorwürfe gegen Sänger Win Butler unter keinem guten Stern. Spektakulär war zumindest ihre Show trotzdem.
Unter anderen Umständen wäre das hier eine Messe geworden. Die Lichtshow, die zweite Bühne, die Epik, die Gäste, das Chorale, das Folkloristische, die Opulenz, die Songs sowieso – Arcade Fire, eine der noch immer größten Indierockbands der Welt, touren seit August durch Europa und machen damit am 29. September 2022 auch in Berlin Halt. Das zweistündige Konzert konnte trotz aller Superlative aber kein uneingeschränkter Siegeszug werden. Die Umstände sind alles andere als normal, sie können und dürfen nicht ignoriert werden.
Kurz vor Beginn ihrer WE-Europatournee veröffentlichte „Pitchfork“ eine Recherche mit enormer Tragweite: Arcade-Fire-Sänger Win Butler, dieser Familientyp, dieser nice guy des Indierocks, der Fürsprecher der Generation unserer Kinder, soll, so die Vorwürfe, sich mehreren jungen Frauen gegenüber mindestens des Machtmissbrauchs und des sexuellen Fehlverhaltens schuldig gemacht haben. Butler gab zu, dass es zu Chats, Sexting, Videocalls und Treffen kam, beteuerte aber, dass alles, was geschah, einvernehmlich geschehen sei. Er sei nicht stolz darauf, bat um Entschuldigung, erklärte, an sich arbeiten zu wollen. Auch seine Frau, Mitmusikerin Régine Chassagne, gab sich solidarisch: Ihr Mann sei zeitweise an „dunklen Orten“ gewesen, aber sie kenne ihn schon seit Jahrzehnten und wisse, dass er kein schlechter Mensch sei. Feist beendete vorzeitig ihren Toursupport, dem Vorverkauf halfen die Schlagzeilen auch nicht, zumal in einer so großen Halle wie der Mercedes Benz Arena und bei den immer teurer werdenden Ticketpreisen. Egal wie schwerwiegend man als Außenstehende*r die Vorwürfe bewertet: Das Sauber-Image von Arcade Fire ist mindestens angekratzt. Vielleicht sogar ihr Erbe, ihr Nachlass.
Weil diese Geschichte nicht nur für Teile des Publikums wie eine Gewitterwolke über einem Konzert wie dem heutigen hängt, sondern gewiss auch über der achtköpfigen Live-Band, fühlt sich der erste Teil des Abends an wie gedämpfte Euphorie mit angezogener Handbremse: So nahbar, wie sich Win Butler beim Tourauftakt in Dublin unter die Leute mischte, zieht die Band heute nicht aus dem Backstagebereich ein, sondern bahnt sich ihren Weg unter Applaus durchs Publikum. Sie beginnt mit „Age Of Anxiety I“ vom aktuellen Album und legt mit den Hits „Ready To Start“, „No Cars Go“ und dem seltener gespielten „Black Mirror“ stark nach. In der Mitte der Halle steht eine zweite Bühne, ein Podest, auf dem über der Leuchtschrift „End Of The Empire“ ein Klavier auf Régine Chassagne wartet. An dieser Stelle wird es unerwartet cheesy, gewollt und um Wiedergutmachung buhlend: Ihr untreu gewesener Mann kämpft sich zu ihr durch, während beide „It’s Never Over“ singen. Ist das hier schon ein Musical? Danach singt Butler allein: „My body is a cage that keeps me from dancing with the one I love“, fast so, als wolle derjenige, der sich jüngst keinesfalls als Opfer inszenieren wollte, hier als Opfer seiner selbst inszeniert. Der Arme, der nicht anders konnte, aber anders will.
Zu „Reflektor“ geht die Lichtshow richtig los, und für eben diese ist eine Mehrzweckhalle wie die heutige auch eine bessere Wahl als die Open-Air-Bühnen, die Arcade Fire in Berlin zuletzt 2017 bespielten. Bis hier her dominierte der Eindruck: Arcade Fire müssen funktionieren, sie sind eine (eigentlich hoch verdiente) Band, eine Familie, irgendwie, aber auch ein Unternehmen. Es scheint, als können sie als Liveband immer noch nicht viel falsch machen, vieles aber auch nicht mehr so richtig richtig. Mit „The Lighting I & II“ scheint dieser Damm für den Moment gebrochen. Ja, das hier ist ein verdammter Hit, „Rebellion (Lies)“ war das schon immer, und von nun an mutiert die Show zu einem eigentlichen Spektakel. Zu „Here Comes The Nighttime“ türmen sich die aus dem „Unconditional I (Lookout Kid)“-Video bekannten aufblasbaren Riesenfiguren erstmals auf, Chassagnes Blick lockert sich, auf den LED-Bildschirmen sehen wir Lachen auf den Gesichtern der Truppe, die sich plötzlich nochmal vergrößert: Zu „Haiti“ werden Arcade Fire von der Mizik Rasin Band Boukman Eksperyans, die wie Chassagne aus dem gleichnamigen Land stammt, unterstützt. Die seit dem Ausstieg von Win Butlers Bruder Will neu hinzugekommenen Livemitglieder Paul Beaubrun, Dan Boeckner und Eric Heigle fügen sich gut ein. Alberne und irrelevante Randnotiz, dass einer von ihnen Richard David Precht ähnelt.
Die Party endet doch – sie beginnt derzeit nicht mal so richtig
Von jetzt an soll es eine Party sein. Eine, wie auch das Outro nach der letzten Zugabe „Wake Up“ als bunt musizierende marching band vermitteln soll, bis tief in die Nacht geht und niemals wirklich endet. Dass die angeschlagene Band selbst backstage weiter feiert, erscheint trotz eines eigentlich sehr guten Konzerts wegen ihres gekippten Fremd- und vielleicht auch Selbstbildes als eher unwahrscheinlich. Nein, Tour und Show standen unter keinem guten Stern (und damit meinen wir nur bedingt den überdimensionalen Mercedes-Stern unterm Hallendach). Gefunkelt hat es trotzdem.
Dass Arcade Fire trotzdem unbeschadeter als andere aus der Skandalnummer herauskommen, ist indes abzusehen: Von Beginn an sangen und klatschten die Fans mit, am Ende gingen sie mit „Oh Oh Oh“-Chören nach Hause. Gefühlt nicht so euphorisch und anhaltend wie zuvor, aber sie taten es. Und es ist genau dieses Publikum, das einen Unterschied machen kann: Wenn jemand wie Luke Mockridge Scheiße baut, ist es vielen seiner Fans egal. Die von Bands wie Arcade Fire speisen sich zu großen Teil aus einer linken, woken Bubble. Sie sind in der Regel kritischer und sensibler als andere, wenn es um Vorwürfe wie die vorliegenden geht. Wenn solche Leute laut in der Kritik bleiben, steht die Karriere auf der Kippe. Wenn sie laut beim Applaus bleiben, bleibt sie höchstens angeknackst. Die Frage, wie viele Menschen noch zu Konzerten von mutmaßlichen Tätern, wie Männer wie Butler aus feministischer Perspektive oft genannt werden (und es ja sind), geht, wurde an diesem Abend in Berlin beantwortet: Rund 14.000 dürften es in der nicht ausverkauften Mercedes Benz Arena gewesen sein.