Any more Morricone anyone?


DJs legen seine alten Soundtracksauf, Remixer bearbeiten seine Stücke, junge Menschen tanzen zu seiner Musik. Nie war Ennio Morricone mehr Popstar als heute - mit 75.

Ein trostloser Bahnhof irgendwo in der Wüste des amerikanischen Westens. Flirrende Hitze. Drei Killer, die in Staubmänteln auf einen Vierten warten, der die drei später erschießen wird, was die aber noch nicht wissen. Sie warten darauf, dass etwas geschieht. Genau wie die Zuschauer im Kinosaal. Die ersten knapp elf Minuten von Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ gelten als die längste Titelsequenz der Filmgeschichte. Es gibt keinen Dialog zu hören und keine Musik, nur Umweltgeräusche-überhöht, übersteigert, verstärkt. Ein Windrad quietscht, Wassertropfen ploppen, Türen knarzen, eine Fliege summt. Epische elf Minuten, dramatische elf Minuten, qualvolle elf Minuten, weil niemand weiß, was passieren wird – bis endlich der Zug ankommt, pfeifend, zischelnd, dampfend, rauchend, der Zug, in dem Charles Bronson sitzt, bis endlich dieses Mundharmonika-Motiv erklingt, und Bronson tut, was er tun muss, weil es im Drehbuch steht. Die Idee, die Eröffnungssequenz von Leones Meisterwerk nicht mit Musik zu unterlegen, stammt von einem, dessen Aufgabe es normalerweise ist, Filmsequenzen mit Musik zu unterlegen: Ennio Morricone. Für über 400 Filme hat der 75-Jährige die Scores geschrieben, Hunderte von Stücken für Sängerinnen wie Charles Aznavour, Paul Anka, Peggy March, Milva, Mario Lanza oder Joan Baez arrangiert, und gut 80 Kompositionen mit moderner Klassik zu Papier gebracht. Und doch gilt Morricone in erster Linie als Komponist für Westernfilme.“Jn Deutschland bin ich sehr bekannt für die Musik, die ich für Western gemacht habe. Ich wunderemich immer, warum das so ist. Innerhalb meines Gesamtwerks hat sie einen Anteil von 8,5 Prozent. Das bedeutet doch wohl, dass da einegewisse Unkenntnis über mein Werk besteht. 91,5 Prozent der Filme,für die ich Musik geschrieben habe, sind ganz anderer Art.“

Das klingt wie eine Klage, soll vermutlich auch eine sein, ist aber nicht so verpackt. Ennio Morricone hat viel zu viel Respekt vor der Kunst, vor den Menschen und vor seinen Gesprächspartnern, um sich einfach nur über etwas zu beklagen. Und er flößt Respekt ein. Ein kleinwüchsiger älterer Herr, der nicht unbedingt gutgelaunt wirkt, der sein Gesicht verzieht, wenn etwas gesagt wird, das ihm missfällt, der selten lächelt, jedes Wort auf die Goldwaage legt, Antworten, denen ein Satz genügen würde, lieber in drei Sätzen gibt, beinahe verkrampft nach Formulierungen sucht, die am Ende stets druckreif sind, sich dann aber noch immer nicht sicher ist, ob er präzise genug formuliert hat und sagt, beinahe anordnet: „Ich hoffe, das war einigermaßen klar“.

Morricone wurde am 10. November 1928 in Rom als Sohn eines Trompeters geboren, begann im Alter von zehn Jahren am Conservatorio di Santa Cecilia ein Studium der Komposition und Trompete, arbeitete später in den fünfziger Jahren u.a. mit John Cage, bevor er 1961 seinen ersten Soundtrack komponierte – für den Film „11 federale“ von Luciano Salce. Hunderte weiterer folgten, und doch wäre Morricone lieber für seine Avantgarde-Kompositionen bekannt, als für seine Soundtracks und schon gar nicht für die Soundtracks von Sergio-Leone-Western. Obwohl er dann gleich wieder relativiert, wie sehr er Leone doch bewundere, dessen Intuition und „dieses Vermögen, der Zeitlichkeit der Musik ihre eigene Bedeutung zu belassen und sie trotzdem mit der Zeitlichkeit der Filmsprache in Einklangzu bringen. „Natürlich sind Morricones Erfahrungen als „ernsthafter“ Komponist in seine späteren Arbeiten eingegangen. Dass er etwa beim Score für den Leone-Western „Zwei glorreiche Halunken“ Alltagsgeräusche benutzte, dass das Heulen eines Coyoten als gesungenes Thema zum Leitmotiv eines Filmes wurde, glich in den sechziger Jahren einer musikalischen Revolution. Morricone spricht in diesem Zusammenhang von „Risiken“, die er eingegangen sei, die aber „absolut notwendig waren „. Und er freut sich, dass er quasi durch die Hintertür die Avantgarde in den Mainstream gebracht hat. Aber: „Ich wusste sehr wohl, was ich riskieren konnte bei der Filmmusik, und wo ich aufhören musste. Wenn ich an Filmen gearbeitet habe, bei denen von uorneherein klar war, dass sie einen geringeren kommerziellen Erfolg haben würden, da riskierte ich noch mehr. In solchen Fällen schrieb ich Musik, die mehr meinem Naturell entsprach und mehr meiner Identität als Komponist von Avantgarde-Musik. „Zum Beispiel für „Ecce Homo“, einen billigen Science-Fiction-Streifen aus dem Jahr 1968 – wahrscheinlich Morricones ungewöhnlichste Soundtrack-Arbeit. Für ein kleines Kammermusikensemble (Flöte, Bratsche, Harfe, Percussions und Vibraphon) schrieb der Komponist ein atonales, düsteres, beschwörendes Meisterwerk mit einem stark elektronischen Ambiente. Nur eine Filmmusik? Egal. Der Soundtrack zu „Ecce Homo“ ist das Paradebeispiel für Morricones musikalisches Verständnis, seine Fähigkeit, grenzüberschreitende Musikzu schaffen, für die Etikette wie „E“ und „U“ nicht gelten. Der Fragesteller zeigt ihm das Cover, Morricone stutzt, denkt nach, greift sich das Booklet und blättert hektisch darin herum, um seiner Erinnerung nachzuhelfen und kommt zu dem Schluss: „Das ist keine elektronische Musik“. Auf eine Diskussion über die elektronische Wirkung nichtelektronischer Musik lässt er sich nicht ein. Und überhaupt: Was ist eigentlich elektronische Musik? „Das, was sie als elektronische Musik bezeichnen, ist gar keine elektronische Musik. Ich habe ein anderes Verhältnis dazu. Wenn ich elektronische Musik sage, meine ich nicht die Synthesizer-Musik. Ich mag Popmusik. Ich mag auch den Gebrauch von elektronischen Instrumenten in der Popmusik. Aber das, was heute als elektronische Musik bezeichnet wird, ist keine. Richtige elektronische Musik hat eine andere Sprache, ist etwas völlig Verschiedenes, Musik mit Geräuschen, Klängen, die komplett neu sind, die man noch nie so gehört hat.“

Irgendwann Mitte der neunziger jähre wurde Morricone wiederentdeckt. Das war die Zeit des Easy-Listening-Revivals, obwohl Morricones Musik alles andere als easy ist. Und seitdem werden seine Soundtracks aus den sechziger und siebziger Jahren wieder gespielt, Compilations veröffentlicht, die mondo MORRICONE oder MORE MONDO MORRICONE heißen und auf deren Covers leicht bekleidete Sechziger-Jahre-Frauen zu sehen sind. Bands wie Calexico, Friends Of Dean Marrinez oder Fantomas orientieren sich an seiner Soundästhetik, an dertwangenden E-Gitarre, die Morricone aus dem Rockkontext gerissen hat. DJs bearbeiten seine Stücke, wie zuletzt auf ennio morricone remixes, dem Anfang Februar ein zweiter Teil mit Bearbeitungen von 2raumwohnung, Nick Holder und Computerjockeys folgen soll. Morricone hat die Remixe für die beiden Alben zwar autorisiert, scheint aber trotzdem nicht ganz glücklich damit zu sein. „DasisteineVerdrehung dessen, was ich gemacht habe. Es sind ein paar sehr schöne Ausarbeitungen dabei, und andere, die weniger schön sind“, sagt er und malt mit beiden Händen Berge und Täler in die Luft.

„Aber so ist das ja mit allen Dingen‘, meint er mit einem Anflug von Resignation, um dann gleich wieder versöhnlichere Töne anzuschlagen. „Durch den Respekt, den ich für die Arbeit anderer Menschen habe, akzeptiere ich auch die Fantasie der Leute, die meine Musik bearbeitet haben.“ Nein, Ennio Morricone will keinem etwas Böses. Aber manchmal ist es umgekehrt.

„Ich komponiere wie andere Leute Briefe schreiben „, soll er einmal gesagt haben. Seine Miene verfinstert sich, er wendet sich zur Seite, sieht sein Gegenüber mit stechenden Augen an und hält ihm beide Handflächen entgegen, macht eine künstlerische Pause und setzt dann zum Gegenschlag an: “ Das passiert, wenn meine Äußerungen nicht richtig übersetzt werden. Das war anders. Man hat mich gefragt, ob ich die Musik am Klavier schreibe, oder nicht. Da habe ich geantwortet, ich schreibe sie am Schreibtisch, nicht am Klavier. Dann habe ich ein Beispiel gegeben: Hat es denn der Schriftsteller nötig, den Text, den er schreibt mit lauter Stimme vorzutragen? Er liest ihn und basta. Ich schreibe die Musik ohne sie zu hören.“

Hat jemand wie Ennio Morricone noch Träume, die er sich verwirklichen will? „Ich weiß nicht. Ich habe viel Glückgehabt in meinem Leben. Ich will es mir nicht trauen, jetzt noch Träume zu haben. Es ist alles ziemlich gut gelaufen.Ich möchte aber weiterhin die Freiheit haben, das zu schreiben, was ich im Kopf habe und das zu verwirklichen, was mir vorschwebt. „Und was ist das? „Eine Filmmusik“.