An Ian Curtis‘ Todestag: New Order sprechen im Parlament über Suizidprävention
„Man hört Geschichten über 18-monatige Wartelisten. Man kann sich nicht auf eine Warteliste setzen lassen, wenn man vorhat, sich umzubringen. Das ist grotesk“, sagte Bernard Sumner.
Am Mittwoch (18. Mai 2022) vor 42 Jahren nahm sich der Joy-Division-Sänger Ian Curtis das Leben. Zu diesem Anlass haben seine ehemaligen Bandkollegen Bernard Sumner und Stephen Morris am Mittwoch im britischen Parlament mit Politiker*innen und Expert*innen über psychische Gesundheit und Suizidprävention diskutiert. Unter anderem ging es um die medizinische und gesellschaftliche Situation in Großbritannien, die Stigmatisierung von Suiziden, sowie die Probleme, mit denen Menschen mit psychischen Problemen konfrontiert sind. Davon berichtete etwa der „NME“.
„Dachten nicht, dass er ein psychisches Problem hatte“
Bernard Sumner hat die Diskussion im Namen der Band eröffnet. So sprach er über die letzten Jahre von Ian Curtis – und damit einhergehend über die Schwierigkeit, die ersten Symptome einer Depression zu erkennen. „Ursprünglich dachten wir nicht, dass er ein psychisches Problem hatte – wir dachten, er hätte ein Problem mit Epilepsie“, sagte er. Auf den letzten Fotos, entstanden zwei Wochen vor seinem Tod, habe Ian Curtis mit den Händen häufig seinen Kopf gehalten. Den Sänger beschrieb Sumner als eigentlich „normalen“ und „fröhlichen“ Kerl. Er fuhr fort: „Seine Texte waren etwas düster, um es milde auszudrücken, aber wenn Ian im Alltag und bei den Proben bei uns war, war er sehr lustig.“
Unter Hinweis auf die Statistik, wonach jeder Suizid im Durchschnitt 135 Freund*innen, Familienangehörige und Kolleg*innen direkt betrifft, sagte Sumner: „Ich möchte sagen, dass nicht nur die Person, die sich das Leben nimmt, sondern auch die Menschen in ihrem Umfeld zerstört werden.“ Somit brauchen auch die Familie, die Selbsthilfegruppe und die Freunde Unterstützung, so der Musiker: „Wenn jemand psychische Probleme hat, sprechen die Mediziner oft nicht mit der Familie. Ich halte das für falsch, denn die Familie kann sich nicht um die Person kümmern, wenn sie nicht weiß, was das Problem ist.“
„Glaube nicht, dass wir irgendetwas hätten tun können“
Allerdings befand Sumner, dass zumindest das kollektive Bewusstsein seit Curtis‘ Tod geschärft wurde: „Damals wurde gesagt, dass (Selbstmordversuche) ein Schrei nach Hilfe sind, aber das ist nicht wirklich der Fall“, sagte er, und weiter: „Es ist verdammt ernst und sollte ernst genommen werden.“ Im Falle seines Bandkollegen sei es allerdings sehr schwierig gewesen, zu helfen: „Er hatte einen Plan, den er nicht mit uns besprechen wollte. Es ist passiert und ich glaube nicht, dass wir irgendetwas hätten tun können.“
Organisiert wurde die Veranstaltung von der Wohltätigkeitsorganisation für psychische Gesundheit „CALM“. Nach ihren Angaben sind 75 Prozent aller Suizidenten männlich – somit ist Suizid im Vereinigten Königreich die häufigste Todesursache bei Männern unter 45 Jahren. Mit Blick auf diese Statistiken sagte Stephen Morris: „Das Problem bei Ian und bei jungen Männern mit Depressionen ist, dass sie sich nach und nach einkapseln und nicht wissen, mit wem sie reden können.“ Curtis sei in einer Zeit aufgewachsen, in der man „niemanden belästigt und einfach weitergemacht“ habe.
Heftige Kritik an Wartezeiten und Bildungssystem
Bernard Sumner kritisierte vor allem die lange Wartezeiten auf Therapie-Plätze: „Man hört Geschichten über 18-monatige Wartelisten. Man kann sich nicht auf eine Warteliste setzen lassen, wenn man vorhat, sich umzubringen. Das ist grotesk.“ Um mehr Akzeptanz, Individualität und Kreativität zu schaffen, müsste sich auch die Einstellung an den Schulen verbessern, so Sumner – laut ihm können Musik und Kunst auch eine Form von „Therapie“ und „Meditation“ sein.
Auch Stephen Morris rügte das britische Schulsystem: „Das Bildungssystem ist dazu da, die Schüler in zwei Gruppen zu unterteilen. Der eine Haufen: ‚Du bist in Ordnung, du hast alle Tests bestanden, du gehst auf die Universität, wir als Gesellschaft werden dich umarmen und uns um dich kümmern‘. Der andere Stapel lautet: ‚Tut mir leid, geh weg‘.“ Sumner pflichtete ihm bei: „Wir haben diese Art von Welt, in der alles funktioniert, jeder bekommt einen Job, jeder bekommt ein Haus, ein Auto und Kinder – aber das passt nicht zu jedem. Es gibt Außenseiter, die ausgegrenzt werden. Vielleicht werden diese Außenseiter Musiker, weil sie sich nicht dazugehörig fühlen“, so der 56-Jährige.
Punk als Flucht
Zur Geschichte von Joy Division sagte der Musiker: „Wir wurden aus der Punkmusik geboren. Abgesehen von der Rebellion des Punk war es eine Flucht aus der Normalität. Die Normalität ist für einige junge Menschen sehr beängstigend. Teenager werden dazu erzogen, Spaß zu haben, und dann wird ihnen plötzlich gesagt: ‚Das war’s – die Party ist vorbei. Such dir einen Job, besorg dir ein Haus, kauf dir ein Auto, bekomme Kinder und führe ein normales Leben‘“. Allerdings würden nicht alle urplötzlich Anschluss finden wollen: „Einige von uns wollen weiterhin Spaß haben. Man tritt in eine Band ein, damit man ein 30-jähriger Teenager sein kann.“
Ursprünglich sollte die Veranstaltung mit dem Titel „Das Schweigen brechen“ schon im Jahre 2020 stattfinden – allerdings musste sie zwei Mal wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Moderiert wurde die Diskussionsrunde im Speaker’s House von der Labour-Abgeordneten Kerry McCarthy. Darüber hinaus fanden sich auf der Gästeliste prominente Politiker wie Sir Lindsay Hoyle (Parlamentspräsident), Keir Starmer (Vorsitzender der Labour Party) und Gillian Keegan (Ministerin für psychische Gesundheit).