All You Need Is Tatendrang
Wer nicht gerade Utopist oder texanischer US-Präsident ist, ahnt, dass man die Welt nicht im Handumdrehen verändern kann. Wenn es allerdings in den vergangenen 50 Jahren ein Zeitfenster gab, in dem für einen Augenblick alles möglich schien, dann ist es das Jahr 1967: der Kulminationspunkt, das Schlüsseljahr der Dekade. Alles davor war Vorspiel, danach waren die 60er erledigt: zu viel Gewalt, zu viele Drogen, zu viel Geschäftemacherei. 1967 dominierte noch die Unschuld, die Naivität: Drogen werden uns alle befreien und in friedliebende, kreative Menschen verwandeln, wir erobern den Weltraum, praktizieren die freie und universelle Liebe, finden im fernen Osten spirituelle Erleuchtung. „It’s all too beautiful“ singen die Small Faces, „It’s Getting Better All The Time“ finden die Beatles.
Was die Musik des Jahrgangs ’67 ausmacht, ist eine Stil-Vielfalt, die alle bisherigen Grenzen sprengt. War der Beat in der ersten Hälfte der 60er noch deutlich dem Rock’n’Roll und damit dem Blues verhaftet, experimentiert man plötzlich mit allem, was greifbar ist: Procol Hamm bedienen sich bei Bach, George Harrison bringt indische Klassik ins Spiel, der wundertätige neue Gitarrengott Jimi Hendrix beamt den Blues in den Weltraum, Pink Floyd kupfern bei der Avantgarde ab, während The Who mit THE who SELL out ein Pop-Art-Konzeptalbum auflegen. Chuck Berry, Elvis und Willie Dixon spielen als Inspiration keine Rolle mehr, die neuen Ikonen sind der LSD-Pionier Timothy Leary, Stanley Owsley III , der die Rock weit mit Trips versorgt, und natürlich John Lennon und Paul McCartney. Letztere sind auf dem Zenit ihrer Kreativität, gelten als göttergleich und unfehlbar – und genießen ihre Narrenfreiheit.
Das Symbol des Pop-Jahres 1967 schlechthin ist natürlich sgt pepper’s LONELY HEARTS CLUB BAND. Ob es das beste Beatles-Album ist, sei dahingestellt, ein Meilenstein ist es zweifellos: Nie zuvor hat eine Popband länger an einem Album gearbeitet (vier Monate), erstmals werden auf einer Hülle die Texte abgedruckt; die Kosten für das Cover-Artwork sorgen bei den Verantwortlichen der Plattenfirma für gTaue Haare, und Produzent G eorge Martin betritt mit seinen gekoppelten Vierspurmaschinen technisches Neuland. Die Musik wird komplexer, Klänge werden massiv verfremdet, Texte nach dem althergebrachten Junge-trifft-Mädchen-Schema sind komplett überholt. Surrealismus ist das große Ding, als Quelle dienen Drogenerfahrungen, Kinderbücher, Science Fiction und spirituelle Themen. Jim Morrison schwimmt in „Moonlight Drive“ zum Mond, Syd Barren von Pink Floyd erzählt von Vogelscheuchen und Gnomen, John Lennon berichtet in „Lucy In The Sky With Diamonds“ von „newspaper taxis “ und „kaleidoscope eyes „: Nothing ist real.
Innerhalb eines halben Jahres erscheinen 1967 vier Debütalben, bei denen das Adjektiv „legendär“ beinahe untertrieben wirkt: Im März kommt das Debüt der Doors auf den Markt, im Mai folgt ARE YOU experienced der Jimi Hendrix Experience, im August THE piper atthe Gates of dawn von Pink Floyd und im Oktober schließlich THE VELVET UNDERGROUND AND Nico.Eine extrem fruchtbare Zeit also, für manche Zeitgenossen aber auch eine furchtbare: Die Rolling Stones verirren sich im Wunderland der Drogen, liefern mit their satanic majesties request ein halbgares sgt. pepper’s-Rip-Offab und werden Opfer eines Schauprozesses: Jagger, Richards und Jones stehen wegen Drogenbesitzes vor Gericht. Zur Ehrenrettung: Ihr Song „2000 Lightyears From Home“ ist spukiger SciFi-Acid-Rock vom Allerfeinsten.
Die Welt ist 1967 so bunt wie nie zuvor, nicht nur, weil in Deutschland die Farbfernseh-Ära beginnt. The Velvet Underground in New York und die Hippies der Westküste experimentieren mit Lightshows, farbenfrohe Klamotten sind der letzte Schrei. Modebewusste Musiker laufen in samtenen Uniformjacken und seidenen Rüschenhemden herum – ein androgyner Chic, bei dem sich Jahre später der Glamrock bedienen wird. Als langfristig kaum durchsetzbar erweist sich der hippieeskeHangzuKaftanen und Fellwesten, der sich in Kalifornien Bahn bricht.
War die Pop-Welt seit Jahren komplett auf England fixiert, erblüht 1967 an der US-Westküste – vornehmlich in San Francisco – eine eigenständige Szene mit Bands wie den Grateful Dead, Big Brother And The Holding Company und Jefferson Airplane. US-Musiker emanzipieren sich langsam von britischen Vorbildern, kochen aus Country, Blues, Folk und LSD ihr eigenes Süppchen. Die Hippie-Bewegung ist in Kalifornien kein Minderheitenprogramm, sondern beinahe Mainstream: Smoke-Ins, Be-Ins, Performances und Straßentheater sind an der Westküste allgegenwärtig, allerdings ist der Haight-Ashbury-Distrikt San Franciscos nicht nur voller beseelter Blumenkinder, sondern auch Auffangbecken für Drogenwracks und Dealer. Erste Risse im Bild von der schönen neuen Welt.
Als im Juni in Monterey das erste Open-Air-Festival über die Bühne geht, ist die Phrase „Sommer der Liebe“ in aller Munde. Hendrix, The Who, The Byrds, Grateful Dead, Jefferson Airplane und andere mehr stehen auf der Bühne, Sitar-Meister Ravi Shankar sitzt – und verzaubert das Publikum mit virtuosen indischen Ragas. Hippie-Idylle unter der Sonne Kaliforniens, doch bald ist die Show vorbei. Im Oktober feiert die Subkultur San Franciscos den symbolischen „Tod des Hippies“. Denn das Movement ist mittlerweile zur Kommerzmaschine verkommen, die Szene explodiert in alle Richtungen: Da gibt es Mitläufer, die nach der Party einfach nur müde nach Hause gehen, Zurück-zur-Natur-Freaks, die ihre Landkommunen gründen, Acidheads, die den Absprung nicht schaffen und politisch Engagierte, die auf den Druck des Establishments zunehmend radikaler reagieren. Ist 1967 noch Love &. Peace und Flower Power angesagt, tobt ein Jahr später bereits der Straßenkampf. Aus der bunte Traum.