Alannah Myles: Sündige Myle
Mit ihrer Nummer-Eins-Single "Black Velvet" im Rücken, bläst Alannah Myles nun auch zur Eroberung des deutschen Markts. Kommt die Zukunft des Rock 'n' Roll aus Kanada? Oder ist der Mylenstein doch nur eine Mogelpackung?
Die Leute interpretieren mein starkes Selbstbewußtsein fälschlicherweise als _ Arroganz“, empört sieh Alannah Myles. und ihre dunklen Augen funkeln. „Meine Gradlinigkeit und Offenheit werden mißverstanden.“ So spricht nur jemand, der von sich selbst hundertprozentig überzeugt ist. So spricht eine Frau, die haargenau weiß, was sie will. Sie will ganz nach oben.
Diesem Ziel kam die schwarzgelockte Sängerin mit den markanten Backenknochen in den vergangenen zwölf Monaten schon ziemlich nahe. Ihr Debütalbum ALANNAH MYLES entwickelte sich nicht nur in ihrer Heimat Kanada zum Bestseller selbst brave Sportvereine in der ländlichen Idylle von Weilerswist kennen mittlerweile den Refrain der Nummer-Eins-Single „Black Velvet“ auswendig.
Für den Erfolg hat die Farmerstochter aus Toronto, die sich ihre ersten Sporen in Nebenrollen von TV-Produktionen verdiente, hart und konsequent gearbeitet. „Ich gab eine Menge Geld aus und arbeitete dreieinhalb Jahre an der Platte“, erzählt die schlanke Perfektionistin. „Und es dauerte lange, bis wir alle musikalischen Exzesse auf den Tapes entweder entfernt oder richtig geformt hatten. Denn dieses Album sollte makellos sein.“
So klingt es denn auch: „Ein bißchen Country, ein bißchen Rock ’n‘ Roll; man hört außerdem ein wenig Aerosmith, eine blutarme Kopie von Joan Jett, ein bißchen Mott The Hoople und einen Hauch von Joe Jackson – und alles in allem sehr wenig Eigenständigkeit. Eine reine Marketing-Identität.“ So urteilte die New Yorker Kritikerin Mim Udovitch. Ob sie Alannah mißverstanden hat?
Ganz sicher, meint Miss Myles: „Ich komme aus einem Land, wo man Selbstvertrauen mit Arroganz gleichsetzt, weil sich die Leute anscheinend davon bedroht fühlen. Es paßt einfach nicht ins Schema, daß jemand aus dem Nichts kommt und so viel Erfolg hat und obendrein auch noch alles unter Kontrolle behält. Zumindest erwarten sie, daß du dich ungemütlich oder unsicher fühlst, wenn du noch ganz neu im Geschäft bist.“ Alannah Myles fühlt sich weder unsicher noch unwohl. Sie fühlt sich allenfalls fehlinterpretiert.
Und um den Unterschied zwischen Arroganz und Selbstbewußtsein noch zu verdeutlichen, greift die resolute 25jährige Senkrechtstarterin zum schlagkräftigen Vergleich: „Du brauchst mir mir mal Terence Trent D’Arby gegenüberzustellen, dann siehst du, was ich meine. Ich liebe Terence – aber manchmal wünsche ich mir doch, er würde nicht immer so falsch singen.“
Trotzdem haben auch andere Geschlechtsgenossinnen noch nicht ganz kapiert, um was es Alannah Myles geht. Mit Eiseskälte in der Summe rekapituliert sie das Interview mit einer amerikanischen Journalistin, die sie fragte, wo denn die Sex-Grenzwerte ihrer meist recht offenherzigen Live-Show (siehe Seite 51) liegen.
„Was erwartet sie denn, daß ich anziehe? Einen Parka mit Kapuze? Ich bin nun mal eine Frau, und Gott hat mir zum Glück einige Gaben verliehen, dienlich vor anderen auszeichnen. „
Die Journaille will das einfach nicht begreifen. Mehr noch: Neulich, so grummelt sie. wurde sie doch tatsächlich mit Schimpfworten falsch zitiert. „Dabei fluche ich nie in meinen Interviews und benutze auch keine schmutzigen Ausdrücke. Wer echte Klasse hat, der braucht keine vulgären Sprüche.“ Stimmt. Deshalb braucht die siegessichere Sängerin, die ihre rauhe Raspelstimme selbst als „ziemlich durchschnittlich“ empfindet, mehr Rock-Volltreffer wie „Black Velvet“ und weniger Durchschnittsware, die leider streckenweise ihr Album beherrscht. Oder will sie in Zukunft noch stärker ihren Appeal als sündige Myle betonen?
Wieder dieser eisklare Blick: „Ich habe schon eine Idee fürs nächste Video, für den Song, Who Loves You'“, enthüllt die Künstlerin. „Ich werde nackt in einem schlammigen See schwimmen, nur mein Gesicht vom Nebel verhüllt, und dabei singen. Mal sehen, was die fucking critics dazu sagen.“
Für einen Moment wirkt Alannah unsicher. „Shit“, flucht sie dann. Jetzt ist mir doch ein schmutziges Wort rausgerutscht. Aber was soll’s“, grinst sie und hat schon wieder alles im Griff. „Niemand ist perfekt“
Genau.