Aidas Popkolumne: Was Kendrick Lamar und die FDP gemeinsam haben
Toxische Typen überall: Lamar lässt seinen Gottkomplex gut klingen, die FDP versucht es ihm gleichzutun & scheitert.
Reden wir noch über Kendrick Lamars Überraschungsdrop GNX oder hat die Flutwelle der Gegenwart das Thema schon weggespült? Es sind ja immer so viele Dinge – aber ich hänge immer noch auf diesem irren Album fest. Wieder mal hat King Kenny bewiesen, dass es keinen größeren Rapper als ihn gibt, jedenfalls niemanden, der heute noch lebt (Drakeo the Ruler, von dessen Flow er für dieses Album sehr offensichtlich inspiriert war, wurde vor drei Jahren im Backstage eines Festivals ermordet). Und gleichzeitig lässt es mich irritiert zurück: So viel Wut, so viel Entitlement, so viel Zerrissenheit. Das fasziniert mich, schließlich zeigt sich nicht alle Tage einer der größten Popstars der Gegenwart sein ganzes Inneres in aller Hässlichkeit. Es geht um den spektakulär riesigen Beef mit Drake, es geht um Los Angeles, es geht um die Musikindustrie im Großen und Ganzen und es geht um seine eigene Hybris und Unsicherheit.
Wenn das „Gott“ in „Gottkomplex“ ein wenig zu ernst genommen wird
Eigentlich also ein toxischer Typ, der nicht loslassen kann von einem Beef, den er längst gewonnen hat und mit allen und jedem Streit sucht, während er uns erzählt, dass er weiß, dass er der größte Rapper überhaupt ist, niemand auch nur annähernd an ihn rankommen kann und wir ihn ihn eigentlich gar nicht verdienen und verstehen. I mean, auf „reincarnated“ hält er sogar Zwiesprache mit Gott, den er natürlich selbst rappt. Da hat jemand das „Gott“ in „Gottkomplex“ ein wenig zu ernst genommen.
Aber so unsympathisch das alles zumindest auf dem Papier klingt, kann ich trotzdem nicht aufhören, das Album zu hören. Dabei haben wir gerade wirklich genug solche Typen im Diskurs: Man muss sich nur Christian Lindners Performance post-Koalitionsende und vor allem in der vergangenen Woche mit dem ganzen Hin und Her um das „D-Day“-Papier anschauen, in dem das Platzenlassen der Koalition schon seit Monaten geplant wurde. Dessen Existenz leugnete die FDP erst lange, dann leugnete sie, dass irgendjemand davon wusste und aktuell wird geleugnet, dass Christian Lindner davon wusste. Und der? Der steht vor jeder Kamera und stellt sich als missverstandener Held dar. Das Papier, was sein engster Vertrauter, der Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann, verfasst haben soll, habe er nie gesehen. Also, vielleicht gesehen, aber nicht zur Kenntnis genommen. Was auch immer das heißen soll.
Aber trotzdem sei ja alles richtig, was da drin steht, denn er wollte doch nur Deutschland retten vor dem ganzen Stillstand in der Regierung. Und mit Stillstand ist die eigene Koalition gemeint, in der er als Finanzminister und Chef des kleinsten Koalitionspartners regelmässig bremste, Abmachungen platzen und Projekte im Sand verlaufen ließ. Gottkomplexlevel Kendrick – nur mit dem kleinen Unterschied, dass Kendrick Lamar das Versprechen auch glaubwürdig einlöst und als größer (lebender) Rapper seiner Generation mit GNX all killer, no filler lieferte und seine Selbstüberschätzung immerhin auch immer wieder mit Selbstzweifeln garniert.
FDP ganz ohne Selbstkritik
So etwas wie Zweifel oder gar Selbstkritik aber scheint der FDP aktuell fremd zu sein, zumindest was ihre Spitze angeht: Lindner hat ja schon vor Wochen verkündet, wieder Finanzminister werden zu wollen, auch wenn die Partei laut Umfragen aktuell eher darum kämpft, ob sie überhaupt wieder in den Bundestag einzieht. Wird auch nicht leichter, wenn man im größten Skandal seiner jüngeren Parteigeschichten in quasi jedem Interview und jedem Instagram-Post eine neue Version der Geschichte präsentiert.
Damit befindet sich die FDP aber in bester Gesellschaft, denn verdrehte Wahrheiten, gebrochene Versprechen und wilde Fantasiegeschichten haben Konjunktur. In der Kinderbuchabteilung wäre das ja kein Problem, im Politikbetrieb aber umso mehr. Da wäre das Beispiel Georgien, wo die Menschen seit Tagen auf die Straße gehen, weil die umstrittene, russlandnahe Regierungspartei „Georgischer Traum“ den EU-Beitrittsprozess ausgesetzt hat und auch keine Hilfsgelder mehr aus der EU annehmen will. Trotzdem soll das Land 2030 aber der EU beitreten, behauptet der Premierminister, wie das aber gehen soll, wenn alle Verhandlungen dazu und alle notwendigen politischen Schritte auf Eis gelegt werden, erklärt er nicht. Die Mehrheit der dortigen Gesellschaft, die sich den EU-Beitritt wünscht, lässt sich von der Märchenstunde nicht einlullen und geht aktuell täglich auf die Straße. Oder man könnte nach Argentinien schauen, dessen auf dem Papier libertärer, in Realität aber rechtsautoritärer Präsident Milei ja sowieso jetzt offiziell ein Vorbild der FDP ist, wie Buschmann auf Twitter aka X schreibt und Lindner in Talkshows erzählt. Ebendieser Milei behauptet fröhlich, mit seinem turbokapitalistischen Wirtschaftsprogramm Heilsbringer (ja, Männer mit Gottkomplex, davon hatten wir es heute ja schon) seines Landes zu sein – während seit seinem Regierungsantritt vor einem Jahr immer mehr Argentinier*innen eben aufgrund dieser Politik in die Armut getrieben werden. Aber wenn stören schon solche Kleinigkeiten, wenn man eine gute Geschichte zu erzählen hat? Und dann wären da wie immer noch die USA, wo sich aktuell beide Parteien nicht gerade mit Ruhm bekleckern: Joe Biden, der seine letzten Wochen im Amt damit verbringen könnte beispielsweise noch schnell Umweltgesetze durchzuboxen, bricht sein Versprechen, seinen unter anderem wegen Steuerhinterziehung verurteilten Sohn nicht zu begnadigen. Was ist das Versprechen von gestern wert? Papa hat noch schnell den Sohnemann begnadigt und damit einen ziemlich beschissenen Präzedenzfall für die Zukunft geschaffen. Trump auf der anderen Seite, der monatelang behauptete vom ultrarechten Regierungsplan „Project 2025“ nichts zu wissen, setzt jetzt dessen Autor*innen auf alle möglichen Schlüsselpositionen. Was interessiert ihn sein Geschwätz von gestern?
Die Mess dieser Tage
Was soll ich euch sagen: Ich erwarte ja nicht viel von der Welt, aber die Mess dieser Tage, ich weiß auch nicht, wie ich sie weiter aushalten soll. Und vielleicht sieht Kendrick Lamar die Sache nur falsch herum: Es ist nicht so, dass die Welt ihn nicht verdient – nein, wir alle verdienen diese Welt gerade nicht.