Aidas Popkolumne: Get up, stand up for your right … to go viral?
Hear ME Out: Überall ist Aufruhr – aber was würde Bob Marley zu Insta- & Tiktok-Protestaktionen sagen?
Kürzlich war ich bei der großen Kundgebung „Wir sind die Brandmauer“ in Berlin. Fast zweitauschend Organisationen haben sich dem Aufruf, eine echte Brandmauer und nicht nur eine dünne Papierwand gegen Rechts zu bilden, angeschlossen und irgendetwas zwischen 300.000 (Veranstalterangaben) und 150.000 (Polizeiangaben) Menschen sind dem beschissenen Wetter getrotzt und haben an der Wiese vor dem Reichstagsgebäude gefroren. Trotz des Frierens und aller Kritik, dass diese Demos nicht klar genug Ziele formulieren und nicht radikal genug sind, war das dann doch einer der wenigen Anlässe, die in diesen miesen Tagen irgendwie ein wenig Hoffnung gegeben haben. Und das lag nicht nur am musikalischen Rahmenprogramm, bei dem sich neben Deichkind und Malonda sogar eine Nina Chuba und Revolverheld klar auf Seiten derer, die nicht ihre Nachbar:innen deportieren wollen, positioniert haben. Da ist ja schon mal etwas. Die Helene-Fischer-Antifa ist alive and kicking.
Bob-Marley-Werbung bei der Demo
Aber wir würden nicht im Kapitalismus leben, wäre nicht irgendjemand auf die Idee gekommen, diesen Protest auch geil für sich als Werbemaßnahme zu nutzen. In diesem Fall: Irgendeine Social-Media-Agentur, die es richtig Galaxy-Brain-mässig für eine fantastische Idee hielt, am Rande der großen Kundgebung und kleineren Demonstrationen in der Hauptstadt an jenem Tag eine eigene kleine Demo abzuhalten. Anlass: der anstehende Release vom Bob-Marley-Biopic „One Love“. Eine Handvoll Freiwillige standen also mit gebrandeten Schildern, auf denen ein Best-of der bekanntesten Marley-Songtitel gedruckt waren, etwas verloren in Berlin-Mitte herum, wurden von ein paar Werbehanseln herumdirigiert und imitierten Protest am Rande echter Proteste. Kann man natürlich so machen als Agentur, aber dann ist man halt moralisch verkommen. Was würde Bob Marley davon halten? Das letzte Mal, dass ich noch zu Reggae versunken bin, ist zwar etwa zwei Jahrzehnte her, aber eines weiß ich noch: this ain’t it.
Aber vielleicht passen solche Aktionen auch in diese Zeit, in der politischer Diskurs gerne mal durch Social-Media-Trollaktionen und „soziale Experimente“ ersetzt wird. Da verkleiden sich Influencer:innen als marginalisierte Menschen, gerne zum Beispiel mal als Obdachlose, um eine Reaktion von Passanten hervorzurufen und je nach Bedarf auf die Schlechtigkeit oder Menschlichkeit der Gesellschaft hinzuweisen. Oder Aktivist:innen sprengen Kultur-Events, wie etwa gerade am vergangenen Wochenende eine hundertstündige Performance-Lesung aus Hannah Arendts Werk im Berliner Hamburger Bahnhof, und erstellen aus den Störungen edgy Social-Media-Content, der natürlich, der Edginess sei dank, komplett viral geht. Die zuständige Künstlerin, Tania Bruguera aus Kuba, entschied sich dann gemeinsam mit dem Museum, irgendwann kurz vor Stunde 90, die ganze Sache abzubrechen. Herzlichen Glückwunsch auf jeden Fall an alle Beteiligten für diese Sternstunde der Politiksimulation.
Was übrig bleibt
Denn nichts anderes ist diese Praxis der politischen Social-Media-Aktion: Die Bilder emotionalisieren, ob es nun eines der vorgeblichen „sozialen Experimente“ ist oder eine laute Störaktion. Aber was bleibt davon übrig? Nichts. Keine Waffenexporte werden verringert, weil eine Kunstperformance mit viel Getöse gekapert wird und kein Land hat bislang eine „Housing First“-Politik eingeführt, nur weil sich eine Handvoll Influencer:innen als wohnungslose Menschen „verkleidet“ und damit Millionen Views eingesammelt haben. Im Gegenteil: diese Aktionen rufen starke Gefühle hervor und hinterlassen wenig.
Dabei ist es ja nicht, als wüssten wir nicht, wie es anders geht. Und als wäre es nicht gerade jetzt, wo die Welt aus den Fugen zu geraten scheint und wir hier zuhause ganz konkret darum kämpfen, dass „kein Fussbreit den Faschisten“ sich nicht in „roter Teppich für Faschos“ verwandelt, wichtig, überlegt, strategisch und nachhaltig zu handeln. Dieser Tage jährt sich etwa der Terroranschlag von Hanau, dem zehn Menschen zum Opfer fielen, neun davon aus rassistischen Gründen, zum vierten Mal. Doch auch vier Jahre nach den Morden an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov wurden den Hinterbliebenen der Opfer ihr einfacher Wunsch nach Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen nicht erfüllt. Im Gegenteil, in seinem Buch „Der Tag an dem ich sterben sollte“ schreibt der Überlebende Said Etris Hashemi sehr intelligent und eindrucksvoll, wie mühsam, wie anstrengend, wie frustrierend der Kampf um Antworten ist. Wie viel Kraft er kostet, wie langsam die Mühlen der Politik mahlen, wie sie der Aufklärung Steine in den Weg legen, wie sie sie bremsen. Aber er zeigt auch, welche Kraft darin liegt, sich zu verbünden. Räume der Solidarität zu schaffen, untereinander, mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, mit solidarischen Journalist:innen oder Lobbyverbänden. So eine mühselige Arbeit bringt aber eben keine Klicks, sie geht eher nicht viral, viel davon bleibt unsichtbar. Aber sie ist der einzige Weg, Wandel zu bringen, der länger als eine Tiktok-Aufmerksamkeitsspanne hält.
Pop verschafft Protest Aufmerksamkeit
Zum Protest gehört auch immer Inszenierung und Pose, ganz klar. Vielleicht haben sich Protest und Pop, von Bob Marley über Joan Baez, Kathleen Hannah zu Disastar oder Juliana Huxtable, deswegen schon immer gerne umarmt – Pop verschafft Protest Aufmerksamkeit, Protest verschafft Pop Relevanz und den Nimbus des Regelbrechens. Aber wenn die Pose wichtiger wird als der Inhalt und die Ziele des Protestes, dann sollten wir vielleicht mal kurz auf die Stopptaste drücken. Soll so unser Diskurs aussehen, so als Gesellschaft? Hochemotionalisiert und inhaltlich leer? Aber auch darauf hat Bob Marley eine Antwort: not all that glitter is gold. Vielleicht höre ich doch mal wieder Reggae.