Aerosmith: Ganz schön schneidig


Auch nach 28 Jahren Aerosmith redet Steven Tyler Klartext. Am liebsten würde er musikalisch experimentieren. Aber leider darf er nicht immer.

STEVEN TYLER HASST ES, ÜBER SEIN ALTER ZU SPRECHEN, Und über alles, was auch nur entfernt damit zu tun haben könnte. Die Zukunft von Aerosmith? Gefährlicher Gesprächsstoff. Tyler ist 51 und nicht 21, also – so denkt er – könnte man gut und gerne gleich fragen, wann er den Job endlich an den Nagel hängt, und ein Tobsuchtsanfall ist vorprogrammiert. Ein vorsichtiger Umweg: Ein jeder dienstalte Beamte, jeder fleißige Angestellte denkt bisweilen mit Freude an den Tag, an dem er die Beine ausstrecken kann und mit zufriedener Ruhe genießt, was er sich in einem halben Leben harter Arbeit verdient hat. Tyler wartet mit hochgezogenen Brauen, gereizt, aber interessiert. Kann sich also ein Herr Tyler nach 28 Jahren Rockstar-Dasein nicht ein klitzekleines bißchen vorstellen, daß es vielleicht ganz angenehm wäre, die Hotelzimmer, durchwachten Nächte, den Leistungsdruck und Kollegenstreitereien hinter sich zu lassen und einfach auszuspannen? „Na klar, ruitürlich kann ich mir das vorstellen! Wir freuen uns nach sechs Wochen Tournee auch immer auf die zwei Wochen Pause. Das ist eine selbstkreierte Hölle, durch die wir da gehen. Und dann wird mir wieder langweilig. Und ich brauche das Adrenalin. Aber doch, ich freue mich darauf, eines Tages in den Ruhestand zu gehen. Eines Tages. Was würde ich dann machen, mit all der Zeit – ein neues Album“, sagt er und grinst.

lief durchatmen, das Gespräch im Garten des Sunset Marquis Hotel in Hollywood kann ohne Zwischenfälle fortgeführt werden. Steven Tyler wird nicht deshalb so oft sauer, weil er Angst davor hat, alt zu werden, er kann sich einfach auch mit größter Anstrengung nicht vorstellen, wie ein Leben nach dem Rock’n’Roll aussehen könnte. Allerdings – muß er ja auch nicht unbedingt. Trotz ein bißchen Grippe, ein paar abgesagten US-Shows und Kamillentee ist das Projekt Aerosmith im Jahr 1999 gesund. Und wer zunächst nicht in philosophisches Sinnieren über die Zukunft des ganzen Powerrocks verfällt, wird wenig Grund zur Sorge haben: Auf Drogen ist bestenfalls noch der Friseur der Herren, die Band wirkt clean und wach. Live springt der Funke über, die Energie von Steven Tyler ist manisch und Brad Whitford und Joe Perry – Gibson verneigt sich mit einem eigenen Les Paul Modell – produzieren noch immer die rotzfetten Gitarrenriffs, die selbst Run DMC zu Headbangern werden ließen. Auch der Umgang ist professioneller geworden, aus einem impulsiven, unruhigen Haufen ist eine Herrenrunde geworden, die gelernt hat, mit Problemen fertig zu werden. Im August 1996 waren Aerosmith zusammen mit Psychiatern in einer kalifornischen Rehabilitationsklinik und haben dort, so scheint es, die Gelassenheit entdeckt. Man schenkt sich heute ein freundliches Lächeln, wo noch bei den Aufnahmen zu „Nine Lives“ die Fetzen flogen: „Seit wir wieder zusammen sind, mußten wir lernen, erwachsener mit unseren Schwierigkeiten umzugehen“, meint Bassist Tom Hamilton, und die anderen nicken weise mit dem Kopf. „Die Tatsache, daß wir gemeinsam unsere Differenzen überwunden haben, ist wie eine unausgesprochene Übereinkunft, daß offensichtlich jeder dabei sein will“, so Hamilton. Es herrscht stabiler Friede, und die Lust an der Arbeit stimmt offenbar auch noch. Denn obwohl sie beteuern, „nicht reich“ zu sein, finanziell nötig haben die Männer den Zirkus sicher nicht mehr.

Alles Sonnenschein also? „Wir haben die Straße einst geteert, warum sollen wir sie nicht nochmal runterfahren?“, posaunte Steven Tyler vor Jahren. Warum nicht? Vielleicht, weil es verdammt neblig geworden ist. Es ist bei weitem nicht mehr so klar erkennbar, wo diese Straße hinführt, die die letzten Monumentalacts des Rock mit fliegenden Mähnen runterdonnern. Bei 10 000 Zuschauern pro Nacht, Ehrungen, einer Nummer-1-Single und wiedergefundener Freundschaft hat das Unternehmen Tyler, Perry, Whitford, Hamilton und Kramer zwar einen relativ sicheren Stand, bedrohliche Risse ziehen sich aber durch das Fundament. 28 Jahre nach der Gründung müssen Aerosmith feststellen, daß der Dinosaurierrock vom Aussterben bedroht ist: „Das ganze Entertainment-Business ist dabei, sich völlig zu verändern, und ich hab‘ keine Ahnung, wohin“, meint ein ungewohnt ratloser Steven Tyler und versinkt in längeres Schweigen. „Hmm … wenn ich mir die Bands in den 90em anschaue, habe ich immer das Gefühl, die wollen gar nicht Stars sein. Die wollen nicht fotografiert werden, die starren lieber auf ihre Schuhe. Es sieht nicht so aus, als ob ihnen das alles Spaß macht, oder? Die sind ja nicht mal stolz darauf, es geschafft zu haben.“ Unverständlich muß so ein Bild für einen Mann sein, der mit Aerosmith über fast drei Jahrzehnte zumindest musikalisch einen schnurgeraden Weggegangen ist, mit unreflektiertem Willen zum Erfolg. Eine gemeinsame Vision hat die fünf jungen Musiker 1970 in einem Apartment in der Commonwealth Avenue in Boston vereint, auf Matratzen auf dem Küchenboden haben sie unruhig geschlafen, getrieben von einem wiederkehrenden Traum mit damals noch überschaubaren Akteuren: „Früher haben alle immer über die gleichen Bands gesprochen“, erinnert sich Gitarrist Joe Perry, der über solche Themen ähnlich ratlos aber weniger emotional als Kollege Tyler philosophiert. „Wenn ich damals mit den Leuten aus dem Musikgeschäft geplaudert hab‘, dann haben die immer alle von einer Band geredet, die gerade das große Ding war. Heute zählen die mir zehn Bands auf, und nicht eine davon kommt in der Liste des anderen vor. Jeder schwärmt mir irgendwas vor, ‚Wow, Bla-bla-bla wird total abgehen‘ und plötzlich hast du fünf oder sechs Bands, von denen du noch nie was gehört hast. Es sind viel zu viel.“ Den Überblick haben sie verloren, und übelnehmen kann man’s ihnen nicht. Sind sie doch in einer Zeit an den Start gegangen, als Charts noch klarer darüber Auskunft gaben, wer zu den künstlerischen Größen der Zeit zählte: Im Winter 1971 hatten Sly & The Family Stone, John Lennon, Michael Jackson, Aretha Franklin, Cat Stevens, Isaac Hayes und Santana Singles in den Top Ten. Als Aerosmith am 5. September 1998 mit „I Don’t Want To Miss A Thing“ die erste Nummer-1 hatten, tummelten sich dahinter Monica, Jennifer Paige, Usher, Brandy & Monica, Tatyana Ali, All Saints und Five, mit gehobenem künstlerischen Gehalt Sarah McLachlan und vielleicht Shania Twain. So geraten Tyler und Perry ins Grübeln, wenn sie nach Acts gefragt werden, die in ihren Augen Potential hätten, bedeutender Nachwuchs zu werden. „Für eine Weile dachte ich, die Wallflowers“, murmelt Tyler. „Aber sie sehen nicht so aus, als ob sie Interesse haben. Sie behaupten das vielleicht, aber sie sehen nicht so aus.“ Und Joe Perry: „Wenn es überhaupt noch Ikonen gibt, die so groß sind wie früher, dann werden sie kürzer durchhalten. Keine Ahnung, wer das neue Teenie-Idol sein wird, alle dachten, es wären die Hansons, die haben zehn Minuten durchgehalten“ – und in diesen zehn Minuten 14 Millionen CDs auf den Markt geschleudert.

IN SOLCHEN ZEITEN BESTEHT ORIENTIERUNGSBEDARF, EINE große Chance für falsche Propheten. Apokalyptische Prognosen sind zu Jahrhundertwenden immer spannend, und ausgerechnet Stephen Davis, Autor der Aerosmith Biographie „Walk This Way“, hat das endgültige Ableben des Rock’n’Roll verkündet. Nicht gerade originell. All zu oft hat man dieses Geunke schon vernommen, zumeist nichts weiter als der unbeholfene Ausdruck von Ratlosigkeit. Vorsicht ist geboten, lohnend ist es trotzdem, Davis Gehör zu schenken. „Walk This Way“ und die vorausgegangene Led Zeppelin Biographie „Hammer Of The Gods“ hat der Autor immerhin so hervorragend absetzen können, daß die Werke in den New York Times Bestsellerlisten auftauchten. „Die Hard-Rock Ära hat mit den Yardbirds 1965 angefangen und ist mit Aerosmith’s Album ‚Pump‘ 1990 zu Ende gegangen“, so lautet Davis‘ Hauptargument. Verantwortlich für den fatalen Stillstand des Rock seien mangelnde Kreativität und das Abwandern der Jugend zu anderen Genres. Und die Mitglieder von Aerosmith haben „Walk This Way“ nicht nur gelesen, sondern auch zur Entstehung beigetragen, sie wissen demnach genau, was in diesen Jahren auf dem Spiel steht: Wenn das Schiff sinkt, dann geht auch die Galionsfigur mit Baden. In den jüngsten Jahren verläßt sich das in Würde gealterte Songschreiberduo Tyler/Perry immer öfter auf Co-Autoren wie Desmond Child, Glen Ballard und Scott Weiland. „I Don’t Want To Miss A Thing“ war gar eine völlige Fremdkomposition von Diane Warren, Balladenköchin für Cher bis Michael Bolton. Weniger Eigenkreativität ist das, Tom Hamilton will es als „Teil der Weiterentwicklung der Band“ verstanden haben: „Viele denken sich, was soll denn das? Wir sagen, macht euch locker, wir arbeiten nicht nur mit anderen Songschreibern, wir arbeiten auch mit anderen Bühnen-Designern und ändern unser Management. Wir haben keine Angst vor Veränderungen. Ich würde jeden Tag eine Nummer-1-Single nehmen.“ Und genau diese puddingweichen Schnulzen sind es, die durch exzessiven Einsatz in der MTV-Rotation wieder scharenweise junge Fans schwindlig gespielt haben; das Live-Publikum von Aerosmith ist heute durchaus heterogen.

Kein Grund allerdings, sich in Sicherheit zu wägen, intern suchen Tyler und Co nach neuen Wegen. Heißt das, Aerosmith werden sich in Zukunft völlig umorientieren und mit neuen Klängen und Konzepten experimentieren? Unwahrscheinlich. Tyler und Band geben sich durchaus Mühe, ihre Visionen zu verwirklichen, vor eben diesem Hintergrund fühlten sie sich aber bei der Herstellung von „Nine Lives“ durch die Einflußnahme ihrer Plattenfirma Sony bevormundet. Nachdem sie die Songs in Florida mit Alanis Morissette-Produzent Glen Ballard eingespielt hatten, lehnte Sony laut Tyler die Aufnahmen ab und teilte Aerosmith den Produzenten Kevin Shirley u.a. Silverchair) zu: „Die zwangen uns, zurück ins Studio zu gehen und die Tracks nochmal mit Shirley einzusingen, der aber nur weiß, wie man Rock’n’Roll macht“, ärgert sich Tyler. „Die Songs hätten eine intellektuellere Flerangehensweise erfordert. Hör dir auf der Single ,Pink‘ die Florida-Version an, die ist nicht wirklich anders, sie hat nur ein anderes Feeling. Das ist nicht schlecht, wie Sony behauptet hat, es wäre nicht das Ende unserer Karriere gewesen, es war großartig, was Glen gemacht hat.“ Vertrauen ist es, was Tyler vermißt. Vertrauen in eine Feinfuhligkeit, die er als Ergebnis von 28 Jahren Erfahrung betrachtet. Lind dürfte Tyler immer, was er wollte, dann würde er heute gerne ein bißchen experimentieren. „Wie soll man sich weiterentwickeln, wenn man Angst davor hat, ins kalte Wasser zu springen? Kevin Shirley hat gesagt, er haßt es, was Glen Ballard gemacht hat, er haßt Loops und meint, daß wir damit klingen, wie eine Scheißband. Ich bin heilfroh, daß er nicht … The Police produziert hat“, so Tyler, der Mut zum Risiko als Grundvoraussetzung für Entwicklung hält. „Wir sind durchaus noch gewillt, anderer Leute Meinung anzuhören. Es ist nur letztes Mal alles falsch gelaufen, und deshalb wird uns sowas nicht mehr passieren.“ Die direkte Frage, ob er beim nächsten Album mehr Kontrolle haben wird, beantwortet Tyler allerdings mit einem zögerlichen „Hmm … ich bin mir nicht sicher“. Sony Music in Los Angeles wurde um Stellungnahme gebeten, bei Redaktionsschluß lag diese nicht vor. Steven Tyler macht den Eindruck, als habe er es heute ziemlich satt, zu allem ja und amen zu sagen. Manager für Manager mußte den Hut nehmen. Erst Tim Collins vor zwei Jahren, im März auch Wendy Laister. Und als Ex-Frau Cyrinda Fox-Tyler kürzlich mit dem Gedanken spielte, ein Nacktfoto von Steven in die Neuauflage ihres autobiographischen „Dream On“ aufzunehmen, haue sie schneller Post auf dem Schreibtisch, als ihr recht war. Tyler verhinderte mit einstweiliger Verfügung die Veröffentlichung des Bildes, das vor Gericht als „pornographisch“ bezeichnet wurde, tatsächlich wohl aber harmlosere Inhalte hat. „Ich glaube, ich war darauf stoned, hatte ein Paar Donald Duck Schlappen an, und mein Schwanz war wahrscheinlich so klein“, vermutet Tyler und schaut durch Zeigefinger und Daumen. „Sie wollte das nur benutzen, damit sie ein Bild von meinem Penis in ihrem Buch hat, und es sich besser verkauft“, so sein Resümee. Eine Aussage, die Fox-Tyler’s Anwalt Jay Butterman in seinem New Yorker Büro in lautes Lachen ausbrechen läßt. Nicht ohne Sympathie nennt er Tyler „ein bißchen übersensibel“ und nimmt seine Klientin in Schutz: „Mit dem Foto wollte sie nur daran erinnern, daß es glückliche Tage gegeben hat.“ Tyler sagt nein, und das, obwohl er 1992 ein Zeichen gegen die Zensur setzte: Seine 10 000 Dollar Spende ermöglichte eine Maplethorpe Aktfoto-Ausstellung im List Visual Arts Center in Boston, deren Subventionierung von konservativen Politikern gestrichen worden war. Überhaupt, so scheint es, weiß Steven Tyler in den meisten Fällen, was zu tun ist. Wie auch dann, wenn er auf Tournee ist, und nachts im Hotelzimmer der Adrenalinspiegel einfach nicht sinken will. „Was ich dann mache? Ich … ich … naja …“Tyler fuchtelt um Hilfe. Und dann kommt’s: „Ich … RUF HAWAII AN! Da ist es mitten am Nachmittag.“ Klatsch – Hände auf die Schenkel. Ein zufriedenes Zurücklehnen. „Es gibt immer was zu tun.“