Die Stille, dein Freund
Obwohl sie auf ihrem neuen Album dröhnen wie nie, hat die Stille bei Low weiterhin Hausrecht.
Wir könnten gemeinsam die Gemälde von Mark Rothko anschauen. Wenige, aber intensive Farben, große Gefühle in abstrakter Vollendung. Um einem Tauben den Zauber von Low zu erklären, könnten wir auch die Kurzgeschichten von Raymond Carver lesen. Kurze, aber kräftige Sätze und leise Geschichten, in denen das tobende Leben widerhallt.
Jemand müsste dem Tauben dann aber auch erklären, warum das neue Album dieses leisen US-Trios den lärmenden Titel THE GREAT DESTROYER. „Unsere Fähigkeiten als Musiker sind sehr beschränkt“, sagt Low-Kopf Alan Sparhawk pragmatisch. „Wenn wir unseren Stil weiter entwickeln wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als … lauter zu spielen.'“ Was auf dem neuen Album passiert, wenn Sänger und Gitarrist Sparhawk Black Sabbath, Rage Against The Machine, Birthday Party oder anderen „heimlichen Schwächen“ huldigt. „Es hat mich immer in den Fingern gejuckt, mal richtig mächtig und destruktiv Gitarre zu spielen.“
Die Fangemeinde dürfte darob ähnlich besorgt sein wie Katholiken es wären, wenn der Vatikan die Liturgie durch Gangsta-Rap ersetzen würde. Denn Low sind Glaubenssache. Erstens, weil Sparhawk und seine Ehefrau Mimi Parker bekennende Mormonen sind: „Spiritualität allgemein hat sicher großen Einfluss auf unsere Kunst. Aber wir sind keine christliche Rockband.“ Wofür wir Gott danken wollen. Low sind Glaubenssache auch deshalb, weil sie mit ihrem Debüt I COULD LIVE IN HOPE (1994) einem monströsen Gegner die Stirn boten: dem Grunge. Wo der brachial lärmte, loteten Low die Tiefen der Stille aus. Wo Wucht war, sollte Raum werden. Wo Pomp herrschte, legten die drei aus Minnesota spröde Muster aus.
„Wir machen konzentriert Musik“, sagt Sparhawk ohne den Anflug eines Lächelns: „Für Kasperletheater ist Musik zu wichtig. Weil Musikvon allen Künsten am dichtesten an die Wahrheit herankommt. Deshalb muss man sie atmen lassen wie einen guten Wein“, in musica veritas, „und zum Atmen braucht Klang sein Gegenteil.“ Die Stille. Stille dient. Als akustische Leerstelle. Oder als Ruhe vor dem Sturm. Stille ist, wovor Klang glänzen kann. Stille dient. Aber nicht bei Leuten wie Wagner, Stockhausen, Cage und eben Low, die weitergehen und ihr eine eigenständige Rolle gönnen. „Zur Stille gehört nicht nur Stille“, sagt Sparhawk, „sondern alle Grade der Verhaltenheit. Geräusche. Raschelnde Blätter, knirschende Räder…“
Seit den Pixies gilt es als todsicherer Rock-Kniff, einer leisen Strophe einen knalligen Refrain folgen zu lassen. Auf Low-Platten wie LONG DIVISION (1995) oder THINGS WE LOST IN THE fire (2001) ist die Stille bisweilen überall, streckt sich, lässt die Gelenke knacken und greift ins knirschende Rad der Zeit. Stille dient. In ihren magischen Momenten gelingt Low ein Tausch der Pole – dann dient die Musik der Stille, die für Momente zu Form und Geltung findet, die sie in der Musikgeschichte nur selten hatte. Hinter dem heiligen Ernst von Low verbirgt sich eine Lust auf Langsamkeit. Neugier auf den Stillstand, Sehnsuchtnach dem Nichts, dem Nullpunkt. Und der absolute Nullpunkt ist ein Ort, an dem sich die Wege spiritueller und aufgeklärter Geister endgültig scheiden. Atheisten sind dort, wo Low hinwollen, wesentlich unglücklicher als Buddhisten. Oder Mormonen. Im neonhellen Büro seiner Plattenfirma in Berlin ist es, wo Alan Sparhawk sich solchen metaphysischen Kram anhören muss. Er trägt’s mit Fassung, blickt zur Decke und schüttelt laaangsam den Kopf: „Am meisten mag ich diesen Augenblick, wenn ich spüre: Bis jetzt habe ich Musik gemacht. Ab jetzt übernimmt die Musik und macht mich.“
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