Nick Drake: Allein auf weiter Flur
Depression und Isolation zeichneten die fruchtbarste Zeit seines kurzen Lebens. Seit seinem Tod vor fast 30 Jahren ist der Stern von Nick Drake als tragische Songwriter-Lichtgestalt stetig im Steigen. Dabei droht der Mythos fast seine Ausnahmestellung als musikalischer Innovator zu überschatten.
„I wish I could bring Nick Drake back to life / He’d understand/hold my hand.“ Graham Coxon ihn in dem Song „I Wish“ 1998 aus seinem damaligen psychischen Aufruhr heraus als empathischen Seelenverwandten und Nothelfer regelrecht anruft, das sagt viel über das Bild, das seit seinem Tod 1974 im Alter von 26 Jahren von Nicholas Rodney Drake erwachsen ist. Nick Drake, die Lichtgestalt, der Schutzheilige der gebeutelten Künstlerseele, Inbegriff des tragischen, unverstandenen Genies, ein romantischer Adonis ohne Arg, der mit Dämonen rang, die er nicht besiegen konnte, – kurz: der perfekte Stoff für einen strahlend verklärten Mythos. Nur dass hier keine Verklärung nötig war. Und dass die Geschichte dieses begnadeten Außenseiters, der kein Glück finden konnte in dieser Welt, der er drei der zeitlos schönsten Alben der Pop-Geschichte hinterließ, eine der ganz schlicht und unspektakulär traurigsten ist, die im an Tragödien reichen Buch der Musikhistorie stehen. Zumal von den schwarzen Wolken, die seine Sonne auslöschen sollten, so lange nicht einmal ein Silberstreif zu erahnen war.
Geboren am 19. Juni 1948 in Burma, wo Vater Rodney einige Jahre für einen Holzexporteur arbeitet, wächst Nick Drake in der englischen Landidylle von Tanworth-in-Arden nahe Birmingham auf. Die Kindheit ist glücklich und die vier Jahre ältere Schwester Gabrielle ganz vernarrt in ihren kleinen Bruder und seine früh erkennbaren Talente. Der besucht seit 1961 die Privatschule Marlborough, wo er Piano und Saxophon lernt, im Chor singt und – athletisch wie er ist – auch als Sprinter und Rugby-Spieler glänzt. Ein zurückhaltender, angenehmer, freundlicher Junge, der sich neuerdings für Folksänger wie Dylan und John Renbourn, aber auch Jazz, Blues und R&B begeistert und mit Freunden nach London zu Konzerten fährt, sich bald für 13 Pfund seine erste Gitarre kauft, wie im Flug zu spielen lernt und beginnt, sich ein Repertoire von Coverversionen zu erarbeiten.
Eine positive Zäsur in Nick Drakes Leben folgt im Frühjahr 1967: Nach dem Schulabschluss reist er mit Freunden ins französische Aix-en-Provence, wo sich buntes Künstlervolk aus aller Welt angesiedelt hat. Die befreiende, inspirierende Atmosphäre dort und im Hippie-Eldorado Marokko, wohin ihn ein Abstecher führt, hat ihre Wirkung auf den Teenager, einen Fan der Dichter Verlaine und Rimbaud. Als er nach vier Monaten heimkehrt, ist er entschlossen, Musik als Beruf weiterzuverfolgen. Das Englisch-Studium, das er im Oktober am Fitzwilliam-College in Cambridge aufnimmt, vernachlässigt er freimütig, kultiviert stattdessen sein Image als romantischer Einzelgänger freundlich, aber schweigsam und von einem Hauch von Mysterium umspielt-, sitzt auf seinem Zimmer, übt wie besessen Gitarre und schreibt Songs.
In dieser Zeit entsteht Drakes eigenständige Gitarrentechnik, an der Generationen von Cover-Willigen verzweifeln sollten. Während es – vor allem im Folk – durchaus üblich ist, dass Gitarristen von der Standard-Stimmung EADGHE auf andere Tunings ausweichen, um die harmonischen Möglichkeiten ihres Instrumentes zu erweitern, lässt Drake meist auch mehr oder weniger gängige alternative Tunings außer Acht und arbeitet fast ausschließlich mit völlig individuellen Stimmungen, die – kombiniert mit seiner eigenwilligen, virtuosen Picking-Technik – der Schlüssel zu den meisten seiner Songs sind. Weil die wenigsten davon transkribiert sind „the official tunings died with Nick Drake in 1974″, wie es der Kurator der Fan-Site nickdrake.com und Autor der “ Annotated Exploration Into the Guitar Style and Techniques Of Nick Drake“ Rupert Hunt formuliert-sind einige Drake-Songsbis heute nicht nachspielbar. Dieses konsequente Hintersichlassen von Normen am Instrument kommt der Tatsache entgegen, dass Drake auch als Songwriter neue Wege beschreitet, ohne dass seine Lieder – gleich ihrem zurückhaltenden Schöpfer-mitihrem Besonderssein lauthals hausieren gingen. Die US-Singer-Songwriterin Robin Frederick, die Drake einst in Aixen-Provence kennengelernt hatte, aber erst viele Jahre nach seinem Tod seine Alben hörte, wirft in drei faszinierenden Essays auf ihrer Homepage www.robinfrederick.com Licht auf die Techniken hinter der Magie von Drakes Songs. Sie führt aus, wie seine Verwendung von bis dato im Pop ungebräuchlichen Taktmaßen, eigenwilligen, Jazz-beeinflussten Phrasierungen, sein einzigartiger atmosphärisch-ambienter Approach und tausend andere handwerkliche Finessen wie etwa die subtile Verschiebung von Akkordfolge und Gesangsmelodie, die das charakteristische Fließende, Schwebende von Drake-Songs beflügelt, – wie all dies Generationen von Songwritern nach ihm „weite neue Felder“ erschloss, und betont vehement die unterschätzte Rolle von Nick Drake als musikalischem Innovator. „Zu denken, das Wichtige an Nick Drake sei sein düsterer Romantizismus, ist etwa so, als meinte man, das Wichtige an Brian Wilson sei das Surfen: Esgehtam Wesentlichen vorbei.“
Bereits die ersten von Nicks eigenen Songs verfehlen 1968 ihre Wirkung nicht. Nachdem er bei seinem ersten richtigen Auftritt mit eigenem Material Anfang Juni die Fitzwilliam-Kommilitonen baff hinterlassen hat, wird er kurz darauf bei einem Gig als Opening Act eines Benefiz-Konzertes entdeckt: Ashley Hutchings, Bassist der aufstrebenden Folk-Heroen Fairport Convention, macht seinen Manager Joe Boyd, eine zentrale Figur im Londoner Underground, der etwa die ersten Aufnahmen der ultra-hippen Pink Floyd produziert hat und gerade dabei ist, sein Label Witchseason aufzubauen, auf den faszinierenden jungen Mann aufmerksam. Der hat auch gleich ein Demo parat, das er kurz zuvor mit seinem Kommilitonen Robert Kirby aufgenommen hat und das Boyd überzeugt. Schon im Juli ’68 beginnen die Aufnahmen zu Drakes Debüt. Die Sessions, bei denen sich der Studio-Novize als ehrgeiziger und durchsetzungsfähiger Perfektionist erweist – die Streicherparts eines von Produzent Boyd und Engineer John Wood engagierten Arrangeurs lehnt er ab und lässt dafür Kirby holen, dem er mehr Gespür für seine Musik zuspricht – ziehen sich über ein Jahr hin. Im August 1969 erscheint bei Island five leaves left; die Kritiken sind gut, die 5.000 verkauften Exemplare nicht schlecht für einen Erstling. Jetzt müsste der hoffnungsvolle Newcomer touren und seinen Namen zu Markte tragen, doch Auftritte sind dem scheuen Sänger eine Qual. Bis Mitte 1970 – dann hört er ganz auf, Konzerte zu geben – spielt er nur einige wenige, bei keinem spricht er auch nur ein Wortzum Publikum.
Kurz nach Veröffentlichung des Debüts verlässt Drake ohne Abschluss das College und zieht nach London, wo er in einer notdürftig eingerichteten Wohnung die Songs zu seinem zweiten Album schreibt, bryter layter, ein Meisterwerk, bei dem – wieder unter der Ägide von Joe Boyd und John Wood -noch mehr Wert auf reicheren Sound und elaborierte Arrangements gelegt wird, ist als großer Durchbruch Drakes geplant, verkauft sich aber nach seiner Veröffentlichung im Frühjahr 1971 trotz jubelnder Reviews nur unwesentlich besser als das Debüt.
Die Verbitterung über seinen kommerziellen Misserfolg trägtbei dem in letzter Zeit nicht mehr nur zurückhaltend, sondern zunehmend isoliert und abgekapselt agierenden 23jährigen zu einer Verschlechterung des psychischen Zustandsbei, die im Laufe des Jahres 1971 immer deutlicher Symptome klinischer Depression hervortreten lässt. Die besorgten Eltern, bei denen Nick jetzt wieder eingezogen ist, drängen ihren Sohn, einen Psychiater aufzusuchen, was der erst nach telefonischem Zuspruch von Freund und Impresario Boyd tut. Die verschriebenen Antidepressiva, die Drake immer wieder willkürlich absetzt, bringen wenig Linderung. Er zieht sich immer mehr zurück, spricht kaum noch, verschwindet regelrecht vom Radar seiner Freunde.
Eine Intervention von Island-Chef Chris Blackwell, der Drake im Spätsommer ’71 für einen Tapetenwechsel seine Villa im spanischen Algericas anbietet, lässt Hoffnung keimen – nach Drakes Rückkehr im Herbst erhält John Wood einen überraschenden Anruf: Drake will ein Album machen. Jetzt. Unter Umständen, wie sie verschiedenerzu denenen seiner vorangegangenen Produktionen nicht sein könnten, entsteht in zwei zweistündigen Mitternachts-Sessions quasi unter vier Augen pink moon: nur Drake und seine Gitarre, eines der intimsten und intensivsten Dokumente, die je ein Songwriter auf Platte bannte.
Als Island das Album im Mai 1972 veröffentlicht, steckt Drake längst tiefer denn j e in den Klauen seiner Depression. Er ist jetzt fast völlig isoliert, kommuniziert kaum noch, und wenn, zerstreitet er sich mit Freunden und Kollegen wie Boyd und John Martyn. Ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik zeigt keine Wirkung. Zwei Jahre vergehen, in denen seine Verbindung zur Musik so gut wie gekappt ist und in denen er halbherzige Versuche unternimmt, ein neues Leben zu beginnen – einen Kurs als Computerprogrammierer(!) bricht er nach einem Tag ab, später kursieren gar Gerüchte, er habe überlegt, zur Armee zu gehen. Anfang 1974 lichtet sich dann der dunkle Schleier über dem fast Vergessenen überraschend etwas: Im Februar ist Nick Drake mit Boyd und Wood zurück im Studio und nimmt vier neue Songs auf, ein halbes Jahr später im Juli folgen ein paar weitere Studiotage. Der Zustand ihres Sohnes – obgleich weiterhin desolat – hat Nick Drakes Eltern zuletzt mehr Anlass zur Hoffnung gegeben als in den zwei Jahren zuvor, als Mutter Molly am Vormittag des 25. November 1974 die Treppe zu seinem Zimmer hinaufsteigt, um ihn zu wecken. Sie findet ihren Sohn leblos auf seinem Bett vor. Er ist in der Nacht an einer Überdosis des starken Antidepressivums Tryptizol gestorben.
Niemand wird je mit Sicherheit sagen können, ob Nick Drakes Tod ein Unfall – die Gefährlichkeit der Überdosierung von Antidepressiva war vor 30 Jahren noch weithin unbekannt – oder Selbstmord war. Lange Zeit galt als Drakes letzter Song das spukige „Black Eyed Dog“, in dem er mit brüchiger Stimme seine Depression thematisiert und das in seiner Verlorenheit als Abgesang eines Mannes, der am Ende ist, gut zur letzteren Theorie passt. Erst kürzlich aber tauchte bei ArchivstöbereienfürdieCompilation madeto love MAGIC ein vergessener Song auf, der noch nach „Black Eyed Dog“ in jener letzten Session im Juli ’74 entstanden sein muss. Das selbstsichere „Tow The Line“ spricht eine andere Sprache als „Black Eyed Dog“ und mag Drakeologen Anlass zu neuen Spekulationen über eine Frage geben, die Gabrielle Drake, heute zusammen mit Joe Boyd engagierte Verwalterin des Erbes ihres Bruders, längst für sich beantwortet hat: „Ich ziehe den Gedanken vor, dass Nick Selbstmord begangen hat“, sagte sie 1997 dem Magazin Mojo, „weil ich lieber annehmen möchte, dass er starb, weil er es selbst beenden wollte, als dass sein Tod die Folge eines tragischen Fehlers war.“