U2 Warten


Die Welt muß weiter warten 'Pop', das neue Album von U2, wird erst am 3. März veröffentlicht. Wies klingt, weiß keiner-außer Robert Hilburn. Der ME/Sounds- Tonspion besuchte Bono und seine Bande im Studio.

„Hör dir das mal an“ meint Adam Clayton auf der Fahrt zum U2-eigenen Aufnahmestudio am Ufer des Dubliner Grand Canal Basin. Er schiebt ein Tape in den Recorder. Hektische Breakbeats dröhnen aus den Lautsprechern. Und als ich mich gerade frage, welcher der vielen angesagten britischen Acts aus dem Dance-Lager sich mir da wohl ins Ohr fräst, vernehme ich eine Stimme, die verdächtig an Bono erinnert, und die vibrierenden Gitarren stammen unverkennbar von The Edge. Versucht da vielleicht eine von diesen Dance-Combos wie U2 zu klingen? Clayton grinst. „Das ist unsere neue Single ‚Discotheque'“, läßt er mich wissen. „Das kann ich nicht glauben.“ Genau so wird es in diesen Tagen vielen U2-Fans gehen, wenn das Stück im Radio auftauchen und erste Anhaltspunkte bezüglich der musikalischen Richtung des ersten U2-Albums seit fast vier Jahren liefern wird.

‚Discotheque‘ ist auf seine Art eine ähnlich radikale Entwicklung weg von ‚Achtung Baby‘ (1991) und ‚Zooropa‘ (1993), wie diese es seinerzeit im Vergleich zu ‚The Joshua Tree‘ (1987) waren. Nicht alles auf dem neuen Album ‚Pop‘, das nun am 3. März in die Läden kommen soll, macht sich die Dynamik der Electronic Dance-Welt so deutlich zu eigen wie diese Single, aber die meisten Songs weisen zumindest einen Hauch dieser Einflüsse auf. Offensichtlich ist dies ein Stil, von dem alle vier Bandmitglieder gleichermaßen begeistert sind, wie sich nach ihrem einjährigen Urlaub herausstellte. „Das waren unsere ersten richtigen Ferien in gut fünfzehn )ahren“, behauptet Clayton, als wir vor dem Studio, das sich rein äußerlich nicht von den anderen Lagerhäusern im Hafenviertel unterscheidet, anhalten. „Ich glaube, wir brauchten die Pause, um voneinander loszukommen und musikalische Möglichkeiten zu erkunden, ohne gleich darüber nachzudenken, was U2 als nächstes machen sollten. Ich zog nach New York, studierte dort eine Zeitlang Musik und beschäftigte mich mit den technischen Aspekten des Bass-Spielens. Als wir wieder zusammenkamen, stellten wir fest, daß wir alle die gleiche Art von Musik mochten. Ich hörte vorzugsweise Bands wie Leftfield, Massive Attack oder Underworld. Bono und The Edge standen auf The Prodigy und die Chemical Brothers. Es war klar, daß wir ein paar dieser Elemente in unsere Musik einbauen würden.“

Bono und The Edge sind schon bei der Arbeit, als Clayton ankommt. Die Gruppe hat den größten Teil U2 warten

des Jahres in diesem Studio mit der wunderschönen Aussicht auf den Hafen verbracht. Schallplattenhändler auf der ganzen Welt hatten eigentlich gehofft, daß das Ergebnis ihrer Mühen noch rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft auf den Markt kommen würde, doch die gesetzte Deadline erwies sich als unhaltbar.

The Edge erklärt, daß es einige Zeit dauerte, bis die Band sich daran Produzent Howie B mit seinem geradezu enzyklopädischen Wissen dancelastiger Musik war ebenfalls anwesend. Zudem besuchte Nellee Hooper, in den späten Achtzigern für den Sound von Soul II Soul verantwortlich, 1)2 im Studio.

Die Studioatmosphäre ist entspannt, obwohl bis zur neuesten Deadline nur noch eine Woche bleibt. Anders als die meisten Bands, die erstmal einen Song beenden, bevor sie den nächsten angehen, hören sich LJ2 verschiedene in den letzten Monaten aufgenommen Stücke mehrmals hintereinander an und überlegen, was noch verbessert werden kann – einerlei ob dies eine Vokalspur oder eine instrumentale Schattierung betrifft.

Manchmal beschließt Bono, ein Wort oder sogar eine ganze Zeile zu ändern. Ein überaus zeitraubender Prozeß, da ein neuer Text oder eine andere Sequenz in der Regel einen ganzen Rattenschwanz weiterer Veränderungen im Song nach sich ziehen. Während sich die Session vom späten Nachmittag in den frühen Morgen zieht, arbeitet die Band einschließlich Müllen, der kurz nach Clayton eingetroffen ist, jeweils eine Stunde lang an einem halben Dutzend Songs. Trotz U2-typischer gewöhnt hatte, Samples in ihre vertraute Songwriting-Methode zu integrieren. Zum ersten Mal seit zehn Jahren arbeiten U2 ohne Produzent Brian Eno, der auch im letzten Jahr an dem Nebenprojekt Passengers beteiligt war. Für die Bandmitglieder war dieses Projekt eine Möglichkeit, sich nach einem Jahr Unterbrechung wieder an die Studioarbeit zu gewöhnen. U2 und Eno stehen sich immer noch nahe, aber man befand, daß es im Interesse der Band sei, die neue Platte mit einem anderen Produzenten aufzunehmen, zumal sich U2 von Enos atmosphärischem Ambient-Sound fortbewegen wollten. Also wandte die Gruppe sich an Flood, den englischen Co-Produzenten von ‚Zooropa‘, der auch für den Smashing Pumpkins-Megaseller ‚Mellon Collie And The Infinite Sadness‘ verantwortlich zeichnete. Der Londoner Strukturen unterscheiden sie sich deutlich von ihren Vorgängern.

„Während der langen Pause verbrachten Edge und ich mit unseren Familien einige Zeit in Nizza“, erzählt Bono. „Wir haben viel Musik gehört und darüber nachgedacht, was wir als nächstes machen wollen, und wir waren fasziniert von den zwei Musikrichtungen, die sich immer deutlicher ausprägen. Einerseits gefiel uns die englische Tendenz, Popsongs im traditionellen Stil von Lennon/McCartney und Lou Reed zu schreiben, in der Art von Noel Gallagher und Oasis. Andererseits beeindruckte uns die Energie und Risikobereitschaft von Techno und HipHop. Wir beschlossen also, die beiden Disziplinen zusammenzubringen. Darum geht es bei dieser Platte.“ Edge erklärt, daß die musikalische Veränderung jedoch keineswegs als verzweifelter Versuch einer Veteranenband zu verstehen ist, sich einen Platz in der aktuellen Musikszene zu sichern. „Nach ‚Achtung Baby‘ wurde immer wieder darüber geredet, daß U2 sich neu erfunden hätten, vermutlich stimmt das auch irgendwie. Aber diese Veränderungen waren nicht strategisch geplant, sie sind entstanden, weil wir uns dafür interessieren, was andere Musiker machen und weil wir uns von ihnen inspirieren lassen. So übernimmt man eine andere Ästhetik und versucht Dinge, die man vorher noch nie ausprobiert hat. Auf diese Weise lernt und wächst man.“

Bono, der sein Haar inzwischen kurzgeschoren trägt, hat sich am Mischpult niedergelassen, während der Rest der Band ihm auf dem Sofa gegenübersitzt. Soeben haben wir uns einen Song vom Album angehört, und Bono will eine Textstelle ändern. Als die Instrumentalspur erklingt, greift er sich ein Mikro, singt den neuen Text und wartet auf die Reaktionen seiner Kollegen. Ähnlich wie bei R.E.M. herrscht bei U2 Demokratie. Die allgemeine Meinung geht dahin, daß Bono mehr Gefühl in seinen Gesang legen soll. Er fängt von vorn an. Diesmal singt er den Text so leidenschaftlich, daß er aufsteht und sich zur Musik bewegt. Als er fertig ist, sehen alle zufrieden aus. Dennoch ist er sich unsicher über ein paar Zeilen in dem Song, der sich mit einem vertrauten U2-Thema beschäftigt: Die Leere, die aus der Fixierung auf materielle Güter entsteht. Angesichts von Bonos Selbstbewußtsein und Autorität auf der Bühne ist es faszinierend zu beobachten, wie unsicher er wirkt, wenn er auf die Meinungsbekundungen seiner Bandkollegen wartet. Während sie über die Textänderungen nachdenken, schlägt Bono etwas nervös ein paar Alternativen vor. Nein, nein, der Text ist jetzt okay, da sind sich alle einig. Als der Song, zumindest für den Augenblick, fertig ist, fragt The Edge: „Was kommt als nächstes?“

Das ist auch so eine Frage, die sich U2-Fans im Spätfrühling stellen dürften, wenn die Band versuchen will, dem hohen Niveau, das sie seinerzeit mit ‚Zoo TV‘ und ‚Zooropa‘ vorgegeben hat, auf einer neuen Tour durch die Stadien der Welt gerecht zu werden. Bono erklärt, daß die Band nicht auf einer Stadiontour besteht, man jedoch der Meinung sei, daß der aggressive Stil der neuen Musik vor diesem Hintergrund am besten wirkt. Sollte die Musik in der Zukunft wieder sanfter werden, wollen U2 in kleinere Venues wechseln. „Es ist immer wichtig, sich alle Möglichkeiten offen zu halten“, betont er. „Man kommt nicht weiter, wenn man sich von vornherein eingrenzt. Erfolg ist ein Kriterium in der Popmusik, aber die große Herausforderung besteht darin, relevant zu bleiben. Wir sind immer noch eine Rock’n’Roll-Band, aber als wir uns im letzten Jahr umsahen, war es unverkennbar, daß HipHop und Dance die Genres sind, die im ausklingenden 20. Jahrhundert den Ton angeben. Und wir wollten sehen, welche Elemente dieser Musik zu U2 passen.“