Giro d’Italia


Drei Tage lang waren wir mit dem Energiebündel aus Siena in ihrer Heimat auf Achse. Dabei bestätigte "Giannissima" den Ruf, der letzte tätige Vulkan Italiens zu sein. Temperamentvoll, hyperaktiv, wortgewaltig, rotzig und provozierend - die 29-jährige scheint tatsächlich ständig unter Strom zu stehen. Daß sich unter der brodelnden Lava noch andere Schichten verstecken, kann man indes fast schon vermuten. Sandro Strauß traf denn auch die Bäckerstochter, die Geige lernt und nachts mit ihrem Philosophie-Professor telefoniert.

Nun bin ich mit mir selbst beschäftigt. niemand kann mich sehen. Ich streichle meine Einsamkeit. Jeder hat einen Körper und weiß, was er aus ihm herausholen kann (…). Sie beißt in ihre Lippen, stöhnt und spürt, wie es ihr immer stärker kommt. „

Mit der Masturbations-Ode „America“ schockierte das Enfant terrible vor nun fünf Jahren in ihrem eher prüden Heimatland die Öffentlichkeit. Daß sie wenig später auch im Ausland Erfolg hatte, lag indes sicher nicht an ihren provozierenden Texten. Die nämlich wurden hierzulande nur von den wenigsten verstanden.“.Viele dachten, das Lied sei eine Art Hymne an Amerika“, lacht sie heute rückblickend.

Wie dem auch sei: Seitdem wirbelt der Gefühls-Orkan aus Siena über europäische Konzertbühnen, verausgabt sich total und gilt als erfolgreichster Musikexport unserer südlichen Nachbarn.

Dienstag, 12. Februar. 11.30 Uhr: „Mein Gott, war das saukalt, endlich wieder in Italien!“

Gianna sitzt in der Swissair-Maschine SR 604 von Zürich nach Rom. Am Abend vorher stand sie in Längweil beim WDR „Musik-Convoy“ live und open air auf der Bühne.“.Bei minus acht Grad konnte ich nicht mal mein Mikrofon richtig halten. Wir haben mörderisch geschlottert!“

Gianna trinkt ein Mineralwasser und ist sichtlich erleichtert, als die Maschine auf dem römischen Airport „Leonardo da Vinci“ landet. „Ich kenne da eine irre Pizzeria, wo sie das Essen an deinem Tisch zubereiten. Da gehen wir heut‘ abend hin.“

Doch vorher muß sie ins Fernsehstudio. Anläßlich des 30jährigen Bestehens der staatlichen Fernsehgesellschaft RAI tritt sie abends in einer großen Show auf.

Für den Taxifahrer, der uns zum Hotel fährt, muß sie gleich einen ganzen Stapel Autogrammkarten unterschreiben. „Weißt du“, lacht sie.“.italienische Großfamilien sind eben größer als bei euch in Deutschland. „

Sie selbst, einzige Tochter unter drei Geschwistern, kennt die italienischen Sippschaftsverhältnisse nur zu gut. In Siena, im Herzen der Toskana, wo das Mittelalter auch heute noch auf dem holprigen Kopfsteinpflaster dahindöst, wuchs Gianna bei ihren überaus strengen Eltern auf. Der Vater, ein angesehener Bäcker- und Konditormeister, ließ seine Tochter denn auch im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal kleine Brötchen backen.

„Mit 18 hatte ich die Nase voll und als ich mein Abitur gebaut hatte, nahm ich den ersten Zug nach Mailand.“ In der Musik-Metropole Italiens studierte sie Klavier, Violine und Gitarre am Konservatorium, später zusätzlich Philosophie.“.Erst vor einem halben Jahr habe ich mangels Zeit mein Musikstudium an den Nagel hängen müssen. Aber Philosophie will ich bis zum Ende durchziehen; in zwei Jahren vielleicht stehe ich dann als Dr. phil. auf der Bühne.“

Im Hotel angelangt, ist gerade noch Zeit zum Umziehen, doch Gianna ruft noch schnell ihren Professor an. Einige Fragen zu anstehenden Prüfungen. „Auf Tour habe ich immer meine Bücher im Koffer, doch abends, wenn ich fix und fertig bin. habe ich lieber meinen Spaß. Ich würde sowieso nach den ersten Seiten einpennen.“

Im Studio beweist sie kurz darauf, daß sie sich zwischen Popmusik und Philosophie auch noch in anderen Bereichen auskennt. Als der Tenor Luciano Pavarotti live aus der Wiener Oper in die Sendung eingespielt wird, singt Gianna bei seiner Cavaradossi-Arie aus Verdis „Tosca“ begeistert mit.

Später in der heißempfohlenen Pizzeria bestellt Gianna nur leichte Kost. „Um ständig fit zu sein, mußt du einfach drauf achten, was du ißt. Darüberhinaus halte ich mich mit Jaggen. Radfahren und Konditionstraining fit. Als ich früher starkes Asthma hatte, kniete ich mich verbissen in mein Sportprogramm. Im letzten Urlaub auf den Malediven bin ich dann total aufs Tauchen abgefahren, inzwischen habe ich auch mit Degen-Fechten angefangen. “ Sagt sie und genießt sichtlich ihre Tintenfisch-Vorspeise.

Nach einer Flasche Wein möchte Gianna gehen, als ein Pärchen ins Lokal kommt und musiziert. Gianna hört neugierig auf Texte und Pointen und klatscht begeistert.

Auch sie hat schließlich einmal klein angefangen: Neben ihrem Studium tingelte sie auf Hinterhofbühnen und sang, was die Leute hören wollten. Das Schicksal wollte es, daß sie hierbei von Musikmanagern entdeckt wurde.

Ihre erste LP UNA PADURA (Eine kahle Stelle) erschien 1977, das zweite Album GIANNA NANNINI folgte zwei Jahre später. „Als Liedermacherin sang ich mir damals den Frust von der Seele, doch die Platten lagen wie Blei in den Regalen.

Wen jucken auch schon die Probleme einer unbekannten Sängerin, die mit der Welt nicht klarkommt?“

Tapetenwechsel brauchte sie. um ihre Gedanken neu zu ordnen, und nahm das Flugzeug nach San Francisco. Doch dort bekam sie etwas zu hören, was sie bereits nach einigen Wochen zur Rückkehr nach Mailand bewog: „Rockmusik liegt dort wirklich in der Luft; Transistorradios in U-Bahnen, Kinos. Cafes, ja selbst in der Kirche! In diesem Augenblick wurde mir klar, daß Rock wirklich die einzige musikalische Ausdrucksmöglichkeit unserer Zeit ist.“

Sie kehrte nach Mailand zurück, arbeitete verbissen am Klavier und komponierte nächtelang. Das Resultat war 1980 ihre dritte LP CALIFORNIA: Knallharte Rockmusik ohne Frust und Seelenschmerz brach förmlich aus ihrem Inneren heraus.

Der Titelsong „America“ war s denn auch, der in ihrem Heimatland die ganze Nation wachrüttelte. Das Cover zeigte die amerikanische Freiheitsstatue, die statt der Fackel einen Massagestab in der Hand hält.

„In Amerika habe ich gelernt, daß man so leben muß. wie man es selbst für richtig hält. Obwohl Amerika nicht das ist, was man sich bei uns in Italien darunter vorstellt. Ich empfand den ,american way of life‘ als oberflächliches Spiel, weil die Leute im Konsumterror kritiklos dahinvegetieren und überhaupt nicht dem Ideal entsprechen, das wir in sie hineinprojizieren.

Daher auch die Textzeile ,Siamo noi la California‘. Damit wollte ich aussagen, daß wir in Europa froh sein sollten, so zu sein, wie wir sind. Amerika ist eine illusionäre Traumwelt, verspielt und realitätsfremd. Wir müssen also unsere eigene Freiheit selbst in die Hand nehmen. Deshalb habe ich auch Amerika als Synonym für meine Muschi verwendet. Warum soll ich nicht darüber singen, wo ich die Freiheit am stärksten verspüre!“

So spontan und ehrlich kann sie sein. Daß man sich mit solchen Aussagen aber auch Feinde schaffen kann, bemerkte ihr damaliger Manager- und wollte sie als kratzbürstige, launische

Rock-Göre „verkaufen“, die ihre Klappe zu weit aufreißt und die man daher nicht allzu ernst nehmen sollte.

Doch die Wirklichkeit sah anders aus – und Gianna sah sich kurzerhand nach einem neuen Manager um: Auf Tour traf sie 1980 Peter Zumsteg, der bereits bei Emerson. Lake & Palmer kräftig am Erfolg gekurbelt hatte. „Ich konnte endlich meine Gefühle zeigen, ohne als Schocker-Braut mit Schlabberjeans und frechen Sprüchen zum Buh-Mann der Nation abgestempelt zu werden.“

„Meine früheren Manager hatten immer Angst vor meiner Spontanität. Daher ließen sie mich z.B. nur selten im Fernsehen Interviews geben. Natürlich trete ich heute noch ab und zu ins Fettnäpfchen – und Peter kriegt schon graue Haare, wenn er wieder etwas glattbügeln muß. Aber heute habe ich endlich die Möglichkeit, meinem Publikum in die Augen zu sehen. Und plötzlich merken alle: , Mensch, die ist ja gar nicht so verrückt, die denkt sich was dabei!‘ Endlich kann ich auch eine Frau sein – weiblich, sinnlich, attraktiv, auch sexy. Das ist schließlich der Wunsch einer jeden Frau!“

Ihr fünftes Album LATIN LOVER entpuppte sich 1983 als weiterer Meilenstein in Giannas Karriere. Eine Italienerin, ein anglo-schweizer Manager und ein deutscher Produzent – bei dieser multinationalen Besetzung konnte einfach nichts schiefgehen. „,America‘ war für euch Deutsche wohl eher ein Ohrwurm, irgendein Rhythmus mit einer exotischen Stimme: den Text kannten leider nur wenige. Ich habe daraufhin meine Texte übersetzen lassen – und plötzlich fingen auch meine deutschen Fans an, mich wirklich zu verstehen.“

Mittwoch, 13. Februar. 9.00 Uhr. Beim Frühstück erzählt Gianna von ihrem letzten Studioalbum PUZZLE. „Man steckt mich oft in eine falsche Schublade – als beinharte Feministin, als männermordendes Monstrum, als miesmachende Emanze. Vom Sternzeichen her bin ich Zwilling: vielleicht ist deshalb mein Charakter so gegensätzlich. Der Plattentitel PUZZ-LE jedenfalls sollte das symbolisieren: Ich bin wie schwarz und weiß.“

Ambivalent sind ja angeblich auch ihre sexuellen Neigungen; man sagt ihr lesbische Beziehungen nach. Ist Gianna wirklich das Mädchen, das nicht mit sich klarkommt und ihre Weiblichkeit lediglich einer Frau gegenüber zur Geltung bringen kann?

„Ich finde das Lacheln einer Frau oft ebenso attraktiv wie das Lächeln eines Mannes. Und nach meinen Shows mache ich auch gerne das, was man mir oft unterstellt.

Aber man sollte dieses Thema nicht ständig aufwärmen. Die Leute, die nur über Sex sprechen, tun’s eh nur selten. Ich befriedige meine sexuellen Gefühle nach wie vor in einem Bett. Egal ob mit einem Mann oder einer Frau. Man vergleicht auch oft meinen Sound mit einem Orgasmus. Doch selbst meine Musik ist kein Ersatz für das Schönste, was es gibt.“

Nach den Proben im Fernsehstudio fahren wir zum staatlichen Rundfunksender RAI. Auf dem Weg immer die gleiche Szene: Sie wird von Passanten erkannt, jeder spricht sie an, verlangt ein Autogramm. Einige Jungs und Mädchen begleiten das Taxi auf ihren Motorrollern: gelbes Taxi mit Vespa-Schutz. Weiter ins Fernsehstudio. Gianna lacht, weil die Hauswände kilometerlang mit politischen Parolen der kommunistischen Partei übersät sind. Text: „L’Italia e una camera a gas“ – Italien ist unerträglich. Der Spruch ist eine Textzeile aus Giannas Super-Hit „Fotoromanza“, der im letzten Jahr sämtliche Rekorde brach: monatelang an der Spitze der italienischen Charts, weit vor ihrer nationalen und internationalen Sänger-Konkurrenz. „L’amore e una camera a gas“.

wurde zum Schlagwort der Nation: Die Liebe ist unerträglich, sie kann dich völlig fertigmachen. Viele Discotheken, Boutiquen, Bars oder selbst Restaurants benutzen inzwischen Giannas Wortprägungen: Pizzeria „Fotoromanza“, Discothek „Latin Lover“, Boutique „Primadonna“.

Der Video-Clip zu „Fotoromanza“. von Meister-Regisseur Michelangelo Antonioni gestaltet, wird selbst heute noch nach mehr als einem Jahr fast täglich von den Fernsehstationen gesendet. Und PUZZLE wurde fast umgehend vergoldet – ohne die illegalen Raubkopien mitzuzählen, die in Italien kaum weniger Umsatz machen wie die regulären Pressungen.

Donnerstag, 14. Februar, Giannas letzter Tag in Rom. Drei Fernsehshows stehen auf dem Terminkalender. „Bei euch in Deutschland wäre das unmöglich. Drei Fernsehshows an einem Tag und dann noch ein Interview im ,Telegiornale‘.“

Man stelle sich vor: Samstagabend, die ganze Nation sitzt vor der Tagesschau – und Gianna Nannini wird in eben dieser Sendung zwischen Nachrichten aus Ost und West interviewt.

„Ein Ding der Unmöglichkeit“, meint Gianna. „auch bei uns“. Ihre Popularität macht’s möglich.

Nach endlosen Foto- und Interview-Terminen fahren wir zurück ins Hotel und holen das Gepäck ab. Es geht zurück nach Mailand. Dort wohnt Gianna in einem 40-Quadratmeter-Appartment. „Meine Wohnung ist für mich wie ein Hotelzimmer. Früher habe ich sogar das Klavier mangels Platz im Klo untergebracht. Und meinen Schreibtisch ins Bad neben die Badewanne. Ich suche aber derzeit eine neue Wohnung. Entscheidend ist. daß ausreichend Platz für ein Mini-Studio mit allen möglichen Instrumenten ist.“

Auf dem Rückflug sprechen wir über ihr neues Live-Album TUTTO LIVE. „So wie damals vor drei Jahren im Rockpalast, weißt du. so fühlte ich mich bei den Aufnahmen wohl. Da bricht ’s aus mir heraus, wie ein Urschrei, eine endlose Explosion an Emotionen.

Ich bin überzeugt, daß dieses Album meine erste Platte ist, die so geworden ist, wie ich mir das schon immer vorgestellt habe. Sie ist eine Mischung meiner Schokoladenseiten: Einerseits bringe ich live halt einfach mehr – und wäre deshalb auch am liebsten 365 Tage im Jahr auf Tournee, weil ich die Tuchfühlung zum Publikum brauche: andererseits sind einfach meine besten Lieder drauf.“

„Tutto live“ ist Gianna denn auch schon bald wieder zu sehen: Im April ist sie in New York, wo die Rocksängerin im Lincoln-Center neben Luciano Pavarotti und der Tänzerin Carla Fracci als Vertreterin der „dritten italienischen Kulturrichtung“ anläßlich der „Grany“-Verleihung (einer Art „Oscar“) auftritt. „Tutto live“ wird sie dann wieder im Sommer auf den großen Open-air-Festivals Dampf ablassen. Ohne dieses Ventil könnte sie gar nicht mehr leben:

„Da kann man seinen inneren Schweinehund richtig rausschwitzen. „