The Pretty Things
Das einzige, was man ihnen vorwerfen könnte, ist die Tatsache, dass sie sich noch immer ‚Pretty Things‘ nennen. Denn dieser Name hängt an ihnen wie ein Fluch.
Mitte der Sechziger Jahre waren sie mehr noch als die Stones, die typischen Bürgerschrecks: fünf typen mit so langen Haaren, wie sie selbst Mick Jagger nicht trug und mit einer Bühnenshow, die man in jenen Tagen als ‚äusserst provozierend‘ empfand. Sie waren die Typen, vor denen verantwortungsbewusste Mutter ihre Töchter warnten. Doch die Töchter mochten die Pretty Things gerade wegen ihres wilden Aussehens… wenigstens eine Zeitlang. Nebenbei gesagt waren sie neben den Stones und Them die einzige wirklich erfolgreiche Rhythm & Blues Gruppe. Aber während Jagger und Van Morrison heute noch mittendrin sind in diesem schönen Geschäft, ist es um die Pretty Things vergleichsweise ziemlich ruhig geworden. Irgendwas müssen sie falschgemacht haben. Oder haben sie vielleicht, im Gegenteil, alles richtig gemacht..?
Wahrscheinlich haben sie sich diese Frage oft genug selbst gestellt. Es dürfte darauf ankommen, von welchem Punkt aus man die Sache betrachtet. Und dann heisst es noch zu erwägen, was eigentlich ‚Erfolg‘ bedeutet. Kann man jemanden nur dann als erfolgreich bezeichnen, wenn er Millionen von Platten verkauft oder ist es vielleicht wichtiger, vor sich selbst erfolgreich zu sein?
Im kommerziellen Sinn haben die Stones sicher besser abgeschnitten. Ihre Wandlung war langsam und letztendlich doch nicht allzu wesentlich. Sie konnten ihr Publikum immer mitziehen. Bei den Pretty Things kam die Veränderung ganz abrupt. 1968 nahmen sie sich plötzlich vor, „nur noch Musik zu machen, und zwar wirklich Musik“.
Sie produzierten ein Album mit dem Titel ‚S.F. Sorrow‘ und kreierten damit die erste Pop-Oper, die je auf Platte erschien. Das war übrigens eine ganze Weile, bevor die Who mit ‚Tommy‘ nachzogen …
Die traurige Geschichte vom Sebastian F. löste jedoch bedauerlicherweise keinerlei Reaktionen aus. Pretty Things-Fans konnten diese Veränderung nicht verkraften. Sie hätten wohl lieber noch ein bisschen ‚Rosalyn‘ gehört. Bei den anderen war es noch schlimmer. Die hörten sich die neue Musik gar nicht erst an, denn sie zuckten schon zusammen, wenn sie nur den Namen ‚Pretty Things‘ hörten {„sind das nicht die, die immer so eine wilde Show abziehen?“) Die zweite LP der neuen Ära war ‚Parachute‘. Doch auch diese Platte bekam allenfalls Achtungserfolge.
Wer die Pretty Things von Heute sind, haben nur sehr wenige verstanden. Dabei hat die Gruppe mit ihrem Vorläufer fast gar nichts mehr gemeinsam. Von der Originalbesetzung ist nur Sänger Phil May übriggeblieben und auch seine Stimme hat sich verändert. Alle anderen Mitglieder sind im Laufe der Jahre ausgewechselt worden.
Die schönsten Lyrics
Ungefähr die schönsten Lyrics, die ich jemals gehört habe, sind die von ‚S.F. Sorrow‘. Alle Texte werden von Phil May geschrieben. Doch auch als Songwriter fand er bisher nur wenig Beachtung. Seine ungewöhnliche Phantasie führt ihn oft in Regionen, in die ihm so leicht keiner folgen kann. Vielleicht schreibt er zu anspruchsvoll, um von der breiten Masse verstanden zu werden. Er selbst sagt:
„Ich habe nie kapiert, warum ‚S.F. Sorrow‘ links liegen gelassen wurde. Aber das ist wohl eine Sache, mit der ich mich ablinden muss“.
Und das ist es, was man an den Pretty Things bewundern kann: Sie haben‘ sich mit ihrer beschissenen Situation abgefunden und spielen trotzdem nicht die ‚unverstandenen Helden‘. Sie machen weiter, ob das nun Geld bringt oder nicht. Organist John Powey erklärt das so:
„Wir machen genau die Musik, die uns Spass macht. Dass man aut diese Weise nicht reich werden kann, wissen wir, aber das ist uns egal. Nenn mir mal eine Topgruppe, die das Geld nicht verändert hat. Ich kenne keine. Es ist doch immer dasselbe sobald die Leute Geld haben, langen sie an verrückt zu spielen. So, wie es zur Zeit läuft, geht es uns ganz gut. Ich habe eine Frau und zwei Kinder, für die ich sorgen muss. Und dazu brauche ich nicht mehr, als ich jetzt verdiene. Wir sind zufrieden, denn wir glauben an unsere Musik und das ist doch wohl das einzig wichtige, oder?“ Die üblichen Sprüche … aber merkwürdigerweise klingen sie wahr. Das ist nicht das bla-bla, das man von anderen Gruppen zu hören bekommt. Die Pretty Things haben bewiesen, dass sie vor allem an ihre Musik glauben. Denn sonst hätten sie längst umsatteln können. John: „Na klar, es ist schön Erfolg zu haben. Aber das muss doch nicht unbedingt mit dem grossen Geld verbunden sein. Wir haben gerade die Plattentirma gewechselt und versprechen uns davon, ehrlich gesagt, eine Menge. Es war ganz nett, wenn sich mehr Leute unsere Musik anhören würden. Ein bisschen Erfolg, ein bisschen Ansporn braucht doch jede Gruppe…“
Der Kompromiss
Die Pretty Things haben sich von Harvest verabschiedet und sind zu Warner Bros, überwechselt. Ihre erste LP auf dem neuen Label, ‚Freeway Madness‘, ist gerade erschienen. Und hier wird noch einmal alles zusammengefasst: Die Lyrics sind so gut (wenn auch nicht ganz so anspruchsvoll), wie die von ‚S.F. Sorrow‘. Die Musik ist so ausgefeilt, wie die von ‚Parachute‘. Und zwei Stücke (‚Havana Bound‘ und ‚Religion’s Dead‘) erinnern noch einmal an die alten Pretty Things. Ein Kompromiss? Vielleicht… Auch auf der Bühne geht es jetzt wieder zu, wie in den ‚guten alten Zeiten‘. Vielleicht haben sie eingesehen, dass die Leute heute wieder Action wollen. Allein mit guter Musik kann sich keine Gruppe mehr durchsetzen.
Vor ein paar Monaten spielten die Pretty Things im Hornsey Art College, London. Ich war ziemlich überrascht. Vier Jahre lang haben sie sich auf der Bühne kaum bewegt. Jetzt fangen sie plötzlich wieder an zu rocken. Die Reaktion des Publikums bewies, dass die Gruppe auf dem richtigen Weg ist. Die Pretty Things hatten an diesem Abend sicher ebenso viel Spass, wie die Leute im Saal. Es war ein richtig dufter Gig, und da war keiner, der ruhig sitzen blieb.
Ein wenig anders verhielt es sich kürzlich während der Deutschland-Tournee. Zwar waren die Auftritte — an deutschen Masstäben gemessen — erfolgreich, doch die Pretty Things schienen ein bisschen enttäuscht. Phil May nach dem Auftritt im Berliner Big Eden: „Es ist nicht gerade ermutigend, vor deutschem Publikum zu spielen. Die sind hier ganz anders, als unsere Landsleute. Es scheint so, als seinen sie hier einfach nicht fähig, ganz aus sich herauszugehen. Früher war das anders. Da haben wir hier ganz irre Konzerte erlebt. Aber heute sind die Leute hier unheimlich cool. Wie kommt das?“ Ja, wie kommt das eigentlich?