Aidas Popkolumne: Do you have the time to listen to me whine?
Hear ME Out: Zwischen Terrorwarnungen, Banddramen & Olympia droht die absolute Überforderung. Wie kommen wir da nur raus?
Was ist da schon wieder los in der Welt, im Internet, dazwischen und überall? Ich schaue die Nachrichten und weiß gar nicht, worüber ich als erstes schreiben soll. Vielleicht über diese miesen kleinen Typen mit islamistischem Gottkomplex fresh aus dem postfaktischen Isis-Internet, die Taylor-Swift-Konzerte in Wien angreifen wollten und dafür sorgten, dass sie abgesagt wurden. Für die Fans brach, irgendwie nachvollziebarerweise, eine Welt zusammen. Oder schreibe ich lieber über die TERF-Olympiade der Erniedrigung, vor der trans Aktivist*innen schon lange gewarnt hatten? Die Welt des Hasses von sogenannten „Transfeinden“ würde auch vor cis Personen nicht Halt machen – eine Befürchtung, die sich im Fall der algerischen Goldmedaillen-Gewinnerin Imane Khelif und ihre Kollegin Lin Yu‑ting aus Taiwan bewahrheiten sollte. Oder schreibe ich darüber, dass Breakdance als „Breaking“ zur olympischen Disziplin wurde und damit große Teile der Breakdance-Community verärgerte, oder über das endlose Töten und der Schmerz in Nahost, in Somalia, Niger, Sudan, oder Myanmar, alles unterlegt mit TikTok-Sounds? Oder schreibe ich über Céline Dion, die Trump abmahnte, oder dass die Party zur Übergabe von Olympia an L.A. 90er-MTV-Vibes hatte, oder dass Body Positivity schon wieder längst out ist und Shirin David den Song dazu geliefert hat (was Kollegin Paula Irmschler übrigens hier schon fantastisch kommentiert hat), oder dass Nazis versuchten, den erst zweiten (!) CSD in Bautzen zu stoppen und sich stolz bei ihrem widerwärtigen Versuch, eine Pride-Flagge anzuzünden filmten, oder dass sich Black Midi sich per Instagram Live trennten?
Es sind so viele Dinge, wichtige (Krieg, Hunger, Terror, Menschenhass) und unwichtige (Banddramen, Donald Trumps nächster Verbalausrutscher) und die große Masse dazwischen, die ganze Zeit und ununterbrochen. Der Aufreger von gestern ist heute schon wieder vergessen, kaum, dass wir in eigentlich so richtig in der Tiefe ergründet haben. Vor zwei Wochen schrieb ich hier davon, wie schnell die Trendzyklusachterbahn des Pop heute durch einen Looping nach dem anderen rast. Ein Nebenaspekt davon, auf den mich die großartige Musikjournalistin Melanie Gollin aufmerksam gemacht hat, ist, dass es schwer wird über Bubbles hinweg verbindende Songs zu finden, die sich in die Gehirnwindungen einer ganzen Generation eingraben. Wird es 2020er Revivalparties geben, wo alle, von Normie bis Cratedigger, gemeinsam mitsingen können? Oder hält kein Song lange genug unsere Aufmerksamkeit, um vom Hit zur Legende zu werden?
Die Popwelt ist nur ein Spiegel
Aber let’s be honest, die Popwelt ist ja nur ein Spiegel der restlichen Welt: die absolute Überforderung ist der Status Quo – und alle Medien kämpfen konstant um unsere nur begrenzte Aufmerksamkeit, aufstrebende Influencer:innen genauso wie altehrwürdige Medienhäuser. Und das Resultat des konstanten Neuigkeitenlärms: kollektiver Brainrot. Oder sagt man das schon nicht mehr, nach dem die olle „New York Times“ den TikTok-Begriff für „zu viel Internet macht Gehirn kaputt“ im Juni erklärt hat? I don’t know, I’m just an old woman yelling at clouds. Die sich literally manchmal fühlt, als würde sie im Video zu „Basket Case“ von Green Day feststecken: It all keeps adding up, I think I’m cracking up.
Immerhin, ich bin gerade weder stoned, noch paranoid, wie Billie Joe Armstrong im Song bei sich befürchtet – auch wenn es ziemlich verlockend wäre, in den Nachrichtenkaskaden der Gegenwart eine Verschwörung zu sehen, die uns von den wirklich wichtigen Sachen ablenken soll. Aber die traurige Wahrheit ist wesentlich weniger glamourös, als die Erklärungen von Verschwörungsideologien: wenn es viel mehr Sender*innen gibt als jemals zuvor und wir Zugriff auf viel, viel mehr Nachrichten aus aller Welt und allen Branchen haben, dann wird’s irgendwann ziemlich doll. Und wer am lautesten schreit, gewinnt. Denn wir sind gleichzeitig medienkompetenter und -inkompetenter denn je: Jede*r weiß, wie man den Algorithmus dribbeln muss, um maximale Aufmerksamkeit zu generieren, aber Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und wichtig von halbwichtig von unwichtig zu trennen, da wird’s schon schwieriger.
Hass geht viral
Gutes Beispiel: der schon eingangs erwähnte CSD in Bautzen. Vielleicht ein harter Take, aber: Wer glaubt, dass „Genderpropaganda“ und „Identitätsverwirrung“ – wogegen sich die „Jungen Nationalen“, die Jugendorganisation des NPD-Nachfolgers „Die Heimat“, mit ihrem angeblichen Gegenprotest stellen wollten – wirklich ein dringendes Problem der Jugend seien, der oder die hat zur Realität wahrscheinlich nur noch einen losen Bezug. Doch das Spiel mit dem Internet beherrschten die größtenteils männlichen selbsternannten Gegenprotestierer ganz wunderbar: Der stolz zur Schau gestellte Hass auf den vielfach viral gehenden Videos, in denen sechshundert Männer sich anfeuern, eine Pride-Flagge anzuzünden, zeigt nicht nur ihre Schamlosigkeit, sondern auch, dass hier bewusst maximale Aufmerksamkeit erzeugt werden sollte. Mit Erfolg: Dass der CSD in Bautzen 1.000 Teilnehmer*innen anzog, geht angesichts des hasserfüllten Videos der Naziseite fast unter. Obwohl es eigentlich ein fetter Grund zum Feiern wäre, denn das waren drei Mal mehr als noch vor einem Jahr als 350 Menschen solidarisch durch die sächsische Stadt tanzten. Und es waren 1.000 Menschen, die keinen Bock darauf hatten, sich einschüchtern zu lassen. 1.000 Menschen, die sich nicht verstecken wollen. 1.000 Menschen, die sich Bautzen und Sachsen nicht nehmen lassen wollen.
Trotz der schon im Vorfeld aus Sicherheitsgründen (!) abgesagten Afterparty war der CSD damit eigentlich ein ziemlicher Erfolg. Aber im Kampf um die lautesten und viralsten Momente setzt sich natürlich das schockierende Video durch. Und versteht mich nicht falsch: Es ist gut und richtig so, dass darüber berichtet wird. Wie Sachsens Innenminister Armin Schuster von der CDU einfach zu behaupten, dass der rechte Aufmarsch einfach „keine sächsische Veranstaltung gewesen sei“ und sie kleinzureden, ist nicht nur bescheuert, sondern auch gefährlich. Wir müssen alle genau hinsehen und darauf achten, was da passiert. Aber es ist eben nicht das einzige, dem unsere Aufmerksamkeit gebührt. Denn so ein Schockvideo ist morgen schon wieder vergessen. Die Leute in Bautzen aber brauchen auch morgen noch Support. Und übermorgen. Und nächstes Jahr am besten drei Mal mehr CSD-Besucher*innen als dieses.
Wir können uns unseren kollektiven Brainrot also nicht leisten. Aber genausowenig nur noch mit Scheuklappen fokussiert auf ein Thema durch die Welt zu gehen, und alles andere, the good, the bad, the ugly (und auch das Schöne) zu ignorieren. Was also tun? Durchatmen und Green Day hören ist vielleicht schon mal ein guter Start. Und uns dann zu überlegen: Wem schenken wir denn lieber ein bisschen mehr Aufmerksamkeit und wem ein bisschen weniger?