Aida erklärt: It’s the end of the world as we know it (And I don’t feel fine)
Kriege, soziale Ungerechtigkeit, Klimakatastrophe: Kann man sich jetzt mit Pop beschäftigen? In ihrer ersten Kolumne sagt Aida Baghernejad: man muss!
Leute, was sind das für Tage, die wir gerade durchleben? Eigentlich wollte ich diese Kolumne mit einem Tusch, übrig gebliebenem Konfetti von Silvester und guter Laune starten. Hey, neues Jahr, neues Glück, oder? Es kann ja alles nur besser werden. Aber ehrlich gesagt ist mir die Champagnerlaune in den vergangenen Tagen gehörig vergangen: Der Nahostkonflikt nimmt kein Ende, aber auch im Sudan, im Jemen, und der Ukraine herrscht weiter Krieg, Menschen sterben sinnlos, Rassismus, Antisemitismus und sämtliche andere Spielarten von Menschenfeindlichkeit breiten sich weiter aus, das Klima hört nicht auf sich zu wandeln und soziale Ungerechtigkeit bleibt weiter im Trend.
Parallel veranstalten Nazis nette Dinnerrunden, in denen sie schon mal organisieren Menschen aus dem Land zu deportieren, wenn sie dann mal an der Macht sind. Würde ja alles mir schon reichen, ehrlich gesagt, aber auch die nächste Zukunft sieht zu allem Überfluss nicht gerade rosig aus: Im Herbst stehen in Deutschland Landtagswahlen an und rechte Parteien rennen von Umfragehoch zu Umfragehöher, die ganze EU wählt wieder das Europaparlament, in das mehr rechte Kräfte Eingang finden könnten, auch Russland simuliert wieder Wahlen, in Österreich will mit Herbert Kickl ein Fan rechtsextremer Parolen Kanzler werden, Parlamentsschaftswahlen von Bangladesch bis Uruguay werden vorbereitet und ach ja, hey, wisst ihr noch, Trump?
Uff.
Wie kann man in dieser Zeit bloß über Pop reden? Über bouncy Songs und groovy Hooks? Über Taylor Swifts neuesten Boyfriend und Olivia Rodrigos Konzertkarten? Über Glitter und Grime und Punkshows in irgendwelchen Kellern und auf riesig großen Bühnen? Darüber, ob Pop-Punk wirklich wieder ein Revival hat (ja, aber auch schon wieder fast vorbei) oder Y2K-Ästhetik schon wieder verschwindet (nein, noch nicht)?
Pop ist die Bühne, auf der wir verhandeln
Ey, ganz ehrlich: Man kann nicht nur, man muss. Denn Pop ist die Bühne, auf der wir verhandeln, was für eine Welt wir wollen, welche Träume wir haben und welche Werte gerade in der Gesellschaft so relevant sind. Und das sind nicht unbedingt die, die die Mehrheitsgesellschaft hochträgt, im positiven wie im negativen Sinne. Pop ist die Selbstermächtigung von Kim Petras, aber genauso der mutmaßliche Machtmissbrauch ihres Produzenten gegenüber anderen Künstlerinnen. Pop ist der feministische Reggaeton von Ivy Queen und die Absage an Maskulinitätsklischees von Bad Bunny, aber genauso der Erfolg von regressiven Genderstereotypen auf Tiktok und Co.
Die Welt ist messy, und das spiegelt sich auch in der Popwelt. Das sind etwa Tendenzen sind wie die Monopolisierung von Kapital: Ticketfirmen und Riesensuperstars wie Taylor Swift oder Beyoncé rufen Mondpreise für ihre Shows auf – aber graben damit auch gleichzeitig kleineren Venues, Veranstalter:innen und Künstler:innen das Publikum ab. Aber auch politische Debatten, wie aktuell vor allem der Nahostkonflikt, setzen sich im Pop fort – und das nicht erst seit dem 07. Oktober. Schon in vergangenen Jahren wurde es zum politischen Statement, ob man in Israel ein Konzert spielen würde, wie Radiohead, – oder sich der BDS-Kampagne anschließen würde, wie etwa die Vereinigung „DJs for Palestine“, die auf Künstler:innen wie Peggy Gou schon 2018 Druck ausübte, Auftritte in Tel Aviv abzusagen. Zu Gigs in Saudi-Arabien, China oder bei Privatparties von Oligarchen und Diktatoren bleibt es dagegen aber oftmals recht still. Komisch.
Wie gehen wir mit der Gleichzeitigkeit der Dinge um?
Wie gehen wir mit der Messiness um? Mit der Gleichzeitigkeit der Dinge? Wie gehen wir damit um, dass mehrere Dinge gleichzeitig wahr sein können? Gerade in einer Welt wie der des Pop, in der Emotionen, Gefühle, die durch Musik und Lyrics und Community hervorgerufen werden, die wichtigste Währung sind – also neben Geld, immer mehr und mehr Geld, um überhaupt Eintritt zu erhalten zu den Shows und Clubs?
Sich die Überforderung zu erlauben, die Messiness zu umarmen und zuzulassen, dass mehrere Dinge gleichzeitig wahr sein können, wäre der erste Schritt. Und der wichtigste. Denn gerade im Pop wissen wir doch am besten, dass Eindeutigkeit nicht wirklich zu haben ist. Ob es nun David Bowies Gender-Expression war oder dass er gleichermaßen eine Lichtgestalt des Pops sein konnte, wie auch im Umgang mit minderjährigen Groupies moralisch mindestens fragwürdig handelte, wenn nicht komplett übergriffig und aus heutiger Sicht strafwürdig. Oder dass ein politisch extrem problematischer Typ wie Kid Rock gleichzeitig einer der stabilsten ist, wenn es um den Schutz seiner Fans vor Ticketabzocke geht. Oder dass eine Nicki Minaj oder Cardi B gleichzeitig nackt und selbstbestimmt sein können. Und eine Lizzo ebenso eine wichtige Stimme für Selbstliebe und Anerkennung sein kann, wie auch eine anscheinend eher nicht so tolle Arbeitgeberin. It’s all true at the same time. Und dieses Gefühl mitzunehmen in all unsere politischen und gesellschaftlichen Debatten, zuhause, mit unseren Freund:innen und unserer Familie, medial oder auch einfach nur in unserem eigenen Denken, wenn wir uns unsere Meinung bilden, kann uns helfen mit der großen Shitshow da draußen fertig zu werden. Irgendwie.
Die Welt brennt und der Pop tut es auch. It’s the end of the world as we know it – but I don’t feel fine. Aber der nächste Dancefloor ist nicht weit. Immerhin.