Popkolumne, Folge 183

„Fällt aus“ statt „Sold Out“: Was man über das Konzertjahr 2022 wissen sollte


Seit etlichen Monaten finden wieder regulär Konzerte statt. Doch wenn man genauer hinsieht, entdeckt man reihenweise Absagen von Festivals, werden gerade unzählige Shows wieder gecancelt. Dass das vor allem an mangelnden Ticketverkäufen liegt, erfährt man selten. Zu schambesetzt ist es für Künstler*innen, damit nach Außen zu gehen. Dennoch ist gerade nichts wichtiger als das, findet Linus Volkmann in der neuen Popwoche – und hat bei einer Band nachgefragt.

Wenn der Booker zweimal klingelt

Ich kann das, was gerade im Konzertbetrieb geschieht, sehr gut nachfühlen. Leider. Ich habe vor Corona viele Lesungen abgehalten, nicht alle davon waren, sagen wir es mal moderat, Straßenfeger. Ich kenne also die Situation, wenn der Booker einem zum fünften Mal eine Nachricht schreibt: „Willst du nicht noch mal eine Insta-Story zu Buxtehude machen? Da sind die Vorverkäufe wohl noch suboptimal.“ Und dass „suboptimal“ bloß der verkleidete Bruder von Scheiße ist, das weiß ja jeder.

Die Sache mit dem Vorverkauf

Alles nicht ungewöhnlich natürlich. Mäßig besuchte Konzerte und Shows, die gab es immer, wird es immer geben. Doch dieses Jahr ist es anders. Dieses Jahr kratzt vielleicht noch mehr an der Substanz von Bands und Kunstschaffenden als es die beiden Covid-Jahre davor taten. Denn die Zeit von Lockdown und geschlossenen Clubs, die konnte man irgendwie überbrücken – immer mit der Verheißung, dass es bald endlich wieder losgeht. Doch was tun, wenn es wieder losgeht, aber die eigene Band kommt trotzdem nicht auf die Bühne? Reihenweise werden dieser Tage Veranstaltungen abgesagt. Zu wenig Vorverkauf, es lohnt sich nicht, den Laden aufzumachen, wenn er dann kaum ein Drittel gefüllt ist. Viele Acts fragen sich: Was passiert da gerade? Ach, man muss es anders sagen: Viele Acts werden von den Umständen dieser Tage richtig fertig gemacht. Die meisten schweigen aus Scham und weil öffentliche Absagen mangels Vorverkauf ja auch nicht gut fürs eigene Image sind. Das Publikum sollte allerdings trotzdem dringend von dieser Situation wissen.

Menschenmaßen auf Konzerten – in Deinem Insta-Feed

Auf Social Media folge ich zum Beispiel Danger Dan, zuletzt verging kaum ein Tag, an dem ich nicht Fotos von ihm vor einer riesigen Menschenmenge sah, ob in bekannten urbanen Auftrittsorten oder auch sonstwo in der Provinz. Darunter reihen sich Fotos von vollgepackten Festivals wie der Fusion, dem Splash – und sieh an, Team Scheiße haben in Kiel in einer Riesenhalle vor den Toten Hosen gespielt. Toll, dass auf den Bühnen scheinbar alles wieder wie vor der Pandemie ist. Ende gut, alles gut! Ist doch so, oder?

Leer ausgehen

Nein, wenn man genau hinsieht, dann wird schnell klar: Wir erleben hier nicht den Status von vor der Pandemie. Dieses ganze „Volle Hütte überall“-Gefühl, was sicher nicht nur mich beim Aufenthalt in den Sozialen Medien befällt, ist lediglich eine Suggestion, ein Ausschnitt, der nicht wiedergibt, was gerade für ganz viele Künstler*innen eine bittere Pille darstellt. Fakt ist vielmehr: Wer keinen unmittelbaren Hype oder das ganz große Standing hat, geht bei dem (vermeintlichen) Event-Bock des Publikums leer aus. Viele Venues bleiben dieser Tage leer, den allermeisten Acts dürften bei den Ticketverkäufen mitunter die Hälfte, wenn nicht mehr, fehlen. Auch diverse gut besetzte Festivals, die nicht gerade „Rock Am Ring“ sind, werden abgesagt. Wie zum Beispiel das „Was zum Festival?!“ (mit u.a. Grossstadgeflüster, Blond, Lumpenpack …) oder das D-Town Distortion (mit u.a. Sepultura, Rantanplan, ZSK …). Das hochkarätig besetzte Punkfestival Ruhrpott Rodeo (dieses Jahr u.a. mit Dropkick Murphys, Slime, Pascow, Akne Kid Joe und sogar Danger Dan) fand dagegen statt, muss aber ausgebliebene Einnahmen durch die Ticketverkäufe durch ein Funding gegenfinanzieren. Die Liste dieser Beispiele ist lang und beim Durchschauen wird schnell klar, dass es sicher nicht an den Line-Ups und dem Engagement all der Veranstalter*innen gelegen haben kann.

Wie viel Galgenhumor braucht man noch?

Rocko Schamoni war einer der wenigen, die diese Misere schon weit vor seiner Kolumne im „Rolling Stone“ zum Thema machten. Denn auch er bekam sie schon, diese Nachrichten vom Booker beziehungsweise Veranstalter, dass ein bevorstehendes Event „nicht läuft“. Und er meistert das wirklich mit viel Witz und Charme. Dinge, die man auch erstmal auftreiben muss, wenn einen das Gefühl überkommt, dem Publikum mangelt es an Interesse an der eigenen Kunst.

Was sagen wir jetzt den Leuten?

Zuletzt allerdings häufen sich die Absagen, das Problem ist nicht mehr zu übersehen. Auch wenn es nicht jede Band so klar benennt wie aktuell Jupiter Jones es getan haben.

Anfang des Jahres hieß es gern noch „unterschiedliche Corona-Auflagen würden zu wenig Planungssicherheit gewährleisten“, doch jetzt im auflagenbefreiten Sommer kann man damit nicht mehr covern. So klingen die Gründe für die Absage der Revolverheld-Tour diesen Jahres etwas schwurbelig, eingeleitet wird das Statement mit den Worten „Nach Rücksprache mit etlichen Expert*innen aus der Konzertbranche, der Medizin und der Politik, sind wir zu der Erkenntnis gekommen, dass für die Wintermonate einfach noch nicht sicher genug geplant werden kann […]“. Dass darüber hinaus aber auch der fehlende Rückhalt durch Kartenkäufe eine Rolle spielen dürfte, legt diese Aussage in dem Posting nahe: „Die Unsicherheit in der Branche und offensichtlich auch bei euch, ist verständlicherweise noch riesengroß.“

Social Media, Absagen und Mental Health

Man möchte eben nicht gern (so es der Fall ist) posten: „Wir können nicht auftreten, weil sich gerade zu wenig Leute für unsere Show interessieren.“

Wer kein Verständnis aufbringt, dass viele Acts diesen klaren Ton aktuell vermeiden, sollte sich meinem Empfinden nach auch aus den omnipräsenten Diskussionen um Mental Health raushalten. Denn diese ständige Evaluierung von Außen, der gerade Kunstschaffende ausgesetzt sind, verlangt stetig Erfolge, frische Likes, neue Highlights.

Sie verlangt, wenn nicht volle Häuser, so aber doch zumindest stattfindende Events. Und wenn dem aber einfach nicht so ist, wie abgewertet muss man sich als Künstler*in fühlen? Natürlich liegt es an Corona, jeder und jede weiß das, aber andererseits gibt es ja trotzdem ausverkaufte Konzerte – wer kann da schon die ganze mentale Last von sich wegschieben und einfach aufs nächste Jahr warten? Warten, ob man nach abgesagten Gigs wirklich noch mal gebucht wird, ob wirklich noch die Konditionen von vor der Pandemie drin sind, ob einen das Publikum wirklich nicht vergessen hat.

Wirtschaftlich ist es das echt ein großes Ding gerade, auch für die geschundenen Clubs, die wieder drinhängen, wenn Veranstaltungen nicht stattfinden, aber eben vor allem für so viele Künstlerseelen, die sich gerade fürchten, die Mail vom Booker oder dem örtlichen Veranstalter zu öffnen – weil sie wissen, was drinnen steht. Bestenfalls: Kurbelt den Ticketverkauf an (ja, wie denn bloß?) oder eben gleich: Sorry, wir können euch/dich so nicht durchführen.

Das tut weh.

Nicht spielen zu können wegen Lockdown ist scheiße für alle und jeden. Aber nicht spielen zu können mangels Zulauf ist erstmal ganz allein scheiße für dich als Künstler*in und Band.

Smile And Burn

Ein Act, den ich sehr schätze, ist Smile And Burn. Pointierter, leidenschaftsgetriebener Post-Hardcore mit mittlerweile deutschen Texten, kommt aus Berlin. Der prophetische Titel ihrer aktuellen Tour lautet „Alle verlieren“, auch Smile And Burn mussten Shows absagen. Und taten das mit der nötigen Klar- und Offenheit.

Ich habe mit Sören von der Band über die Lage gesprochen.

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Sören, Ihr habt zwei Konzertabsagen sowie die Verlegung der Berlin-Show in eine kleinere Halle ganz offen mit fehlendem Vorverkauf benannt. Was ist da gerade los im Konzertbetrieb? Ihr seid ja nicht die einzigen, deren Besucherzahlen aktuell nicht anknüpfen können ans Prä-Corona-Niveau.

SÖREN: Das kann ich natürlich nur thesenhaft beantworten. Aber in allen Gesprächen, die ich die letzten Wochen geführt habe mit Lokalen, Veranstalter:innen, Booking und Freund:innen wurde schon sehr deutlich, dass es beides gibt: Abendkasseschlangen um den Block, genauso wie komplette Rein- und Ausfälle wie beim Puls Open Air. Wir hatten noch Shows in Köln und in Hamburg, die vor zwei Jahren stattfinden sollten. In Köln kam die Hälfte der Leute, die seit Ewigkeiten ein Ticket haben nicht, in Hamburg waren quasi alle da und noch ein paar an der Abendkasse. Ich denke, die Konkurrenz ist einfach unendlich groß, alles staut sich in diesem Sommer. Wir haben in München in derselben Woche gespielt wie die Hosen + Donots, Die Ärzte, Montreal und Southside Festival. Die Beatsteaks spielen diesen Sommer außerdem in ungefähr jeder Stadt. Nicht, dass wir mit denen in einer Liga spielen, aber muss man sich schon fragen, wer dann noch Energie hat für eine Smile-And-Burn-Show.
Es gibt ja auch immer noch Corona, selbst wenn manche schon angesteckt waren oder nur leichte Symptome haben: Niemand will deswegen seinen Urlaub canceln, den 90. von Omi, die Geburt seines Kindes. Da lässt man vermeidbare Veranstaltungen einfach aus. Wir selbst haben keine Events vor der Tour besucht, einfach, um sicher zu gehen, überhaupt mal losfahren zu können. Und drittens, das ist vielleicht die bitterste Wahrheit: Vielleicht ist über die zwei Jahre auch einfach eine komplette Zielgruppe ausgestiegen. Die Kids haben alle wahnsinnigen Event-Hunger, klar. Die mittelalte Gruppe hat sich das Konzertbesuchen aber womöglich abgewöhnt, Kinder gekriegt, Elan verloren. Es gab schon lange zu viele alte Punks, es musste so kommen. Die Jüngsten gehen nur noch zu Idles und Turnstile… oder KennyHoopla.

Wie fühlt man sich als Band, wenn man über zwei Jahre auf die Rückkehr von Liveshows hinfiebert und jetzt diese Situation herrscht?

SÖREN: Diese Entwicklung hat uns schon eiskalt erwischt. Es ging für viele doch eigentlich nur darum, die Durststrecke ohne Shows einmal zu überwinden. Das Pendel des Wahnsinns schwingt dementsprechend die ganze Zeit hin und her. Es ist natürlich trotzdem tierisch, weil die Menschen, die dann wirklich da sind, wahnsinnigen Hunger haben und einem selbst ist auch im Grunde egal, wie voll der Saal ist. Aber den Rest des Tages hat man auch Zukunftsangst, gerade wenn man knapp über der Grenze zur Rentabilität operiert. Im Selbstbild verschiebt sich etwas, weil man 15 Jahre immer – so klein er auch war – einen Schritt vorwärts gekommen ist und jetzt die Früchte der Arbeit gefühlt flöten gehen. Bei den Agenturen verschiebt sich aber auch etwas, weil die kleinen Bands, die man sich früher als straßenkredibile Schmuckstücke im Schaufenster oder im Herzen getragen hat, nun nach den Jahren der Kurzarbeit- und Hinhalte-Ersatz-Events plötzlich negativ in der Buchhaltung auffallen.

Wie schambesetzt war es, im stets Erfolge verkündenden Social-Media-Betrieb zu sagen, es reicht einfach nicht vom Vorverkauf her? Ihr hättet – wie viele andere – diesen Grund ja auch verschleiern können?

SÖREN: Schambesetzt ist wirklich genau das richtige Wort. Man schämt sich einfach unendlich doll. Und obwohl ich ja die realistische Einschätzung von der Booking-Agentur kenne, schaue ich trotzdem in Insta und denke: Fuck, warum passiert nur uns das? Warum läuft es bei allen anderen? Ich kann das völlig verstehen, dass manche Acts sowas verschleiern, man will einfach auf Teufel komm raus nicht diejenige Band sein, bei der die Leute dann denken: Puh, da ist die Luft aber komplett raus bei denen. Dass wir so ehrlich sind, gehört irgendwie zu unserem Selbstverständnis. Aber offen gestanden: Ich hab Zweifel, ob wir es diesmal nicht auch hätten machen sollen wie alle anderen.

Wie seht Ihr die Entwicklung, wird sich das Niveau bei den Zuschauerzahlen wieder erholen? Was ist Eure Prognose?

SÖREN: Ich neige nun nicht zu Fatalismus. Ich muss aber gestehen, dass ich an diesem Punkt zum ersten Mal in 15 Jahren Bandgeschichte komplett ratlos bin.

Was habt Ihr noch geplant mit Smile And Burn für dieses Jahr?

SÖREN: Bei all der Holperei, die gerade so passiert, hatten wir planungstechnisch ein eher goldenes Händchen und können mit ein bisschen Glück bald ein neues Album fertigstellen und dann werfen wir wieder alles in den Ring, was wir haben. Das liest sich, als würde man auf dumm einfach völlig von der Realität entfremdet weitermachen, als wär nichts. Aber etwas Besseres fällt mir zumindest heute noch nicht ein.

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Long Covid

Jedes offene Wort in dieser Phase ist hilfreich. Allein schon um all jene, die das gerade nur mit sich selbst ausmachen, zu zeigen, dass hier ein übergeordnetes Problem die Live-Branche befallen hat. Das hier passiert nicht bloß dir und deinem Act. Wenn du nicht zufällig einen Hit hast oder für einen gehalten wirst, dann kommen aktuell weniger Leute zu deinen Shows, dann muss dein Festival vielleicht abgesagt werden.

Wie es weitergeht, lässt sich schwerlich voraussagen. So trostlos wie jetzt wird es für die Branche aber sicher nicht bleiben. Das Vertrösten und Überbrücken geht aber erstmal weiter. Das Gerede über Long Covid ist wohl jedem vertraut, dass diese Diagnose im Sommer 2022 der Musikszene gestellt werden muss, hat dann aber doch überrascht.

Fuck you very, very much: Was Paula Irmschler über Popkultur und Abtreibung sagt

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