Massive Attack: Welcome to the sorrowdome
Massive Attack entfachten eine Revolution im Pop, die zunächst gar nicht als solche wahrgenommen wurde. Doch ihre von Downbeats und Samples definierten Aufnahmen haben eine unauslöschlich melancholische Spur in der DNA der Gegenwartsmusik hinterlassen – und waren immer auch ein Paradies für Gastvokalisten. Lest hier unsere ME-Helden-Geschichte über Massive Attack.
Flashback zum Jahr 2019: Kein Wort von Massive Attack on stage. Erzählen durfte in der ausverkauften Jahrhunderthalle die Bilderflut von den LED-Wänden, die Dokumentarfilmer Adam Curtis für die Jubiläumstour zum Album MEZZANINE zusammengestellt hatte. Ein wüster Mix aus Polit-Einspielern, Kriegsfilmen und Popkulturverweisen, gefolgt von einer Aufforderung zum Finale, die auch von Greta Thunberg hätte stammen können: „Vergesst die Vergangenheit, gestaltet die Zukunft.“
Eine Bigband hatte die Bühne bei dem Konzert Anfang Februar eingenommen: die beiden Bandgründer Robert „3D“ Del Naja und Grant Marshall („Daddy G“), Schlagzeuger, Gitarristen, Keyboarder, die Gastvokalisten Liz Fraser und Horace Andy. Das Ensemble verwandelte den angekündigten „personalisierten nostalgischen Albtraum“ (3D) in eine multimediale Skulptur mit reichlich in den Klängen hängenden Songs und Coverversionen jener Titel, die auf dem Album gesampelt worden waren. Ein Auftritt, von dem ein Kritiker später schrieb, dass das Publikum kaum hätte behaupten können, es hätte Massive Attack gesehen.
Datenkontrolle, Überwachung, Populismus.
Dennoch formulierten Massive Attack mit ihrer gegen den Strich choreografierten Jubiläumsshow zum 20 Jahre alten, epochalen Werk MEZZANINE zeitrelevante Aussagen, wie sie das in entscheidenden Momenten der Popgeschichte schon mehrfach getan haben. Huschten die Musiker da nicht durch ihre eigenen Stücke wie ein Verein von Geistern, die unterwegs beim Blick auf diese Welt, wie sie nun mal ist, entschieden schlechte Laune bekommen hatten? Welcome to the sorrowdome – dieser Auftritt kam einer Einladung zu einem Thinktank gleich, in dem die politisch Besorgten sich um die Fragezeichen der postfaktischen Ära versammelten. Datenkontrolle, Überwachung, Populismus. Massive Attack übersetzten die schwere Agenda in Dekonstruktion und Gitarren-Drone.
Die Aufnahmen für MEZZANINE vor mehr als zwei Jahrzehnten müssen von einer vergleichbar dunklen Stimmung und einer Unsicherheit geprägt gewesen sein, die Bandmitglieder hatten monatelang um das gekämpft, wofür Massive Attack 1998 stehen konnten. Del Naja suchte nach einem härteren Sound und experimentierte mit Live-Gitarren und -Drums sowie Samples von New-Wave-Songs, Marshall wollte weg vom Soul der alten Aufnahmen, HipHop-Lover Andrew „Mushroom“ Vowles, drittes Gründungsmitglied, demonstrierte seinen Unmut über die Neuausrichtung. Er hatte sich für den Track „Teardrop“ schon Madonna als Sängerin ausgeguckt und deren Management kontaktiert. Der darüber nicht informierte und wenig erfreute Rest der Band aber hatte bereits den Daumen für den von Liz Fraser (Sängerin/Songwriterin der Cocteau Twins) eingesungenen Vokalpart gehoben.
Musik, die einem den Hals zuschnüren und im selben Moment das Gefühl wohliger Erlösung schenken konnte.
Von da an konnte Produzent Neil Davidge das gemeinsame Projekt nur noch mit Mühe moderieren. Wenn Del Naja ins Studio kommen wollte, rief er zunächst Davidge an, damit dieser Vowles heimschickte. Seinen endgültigen Abgang verkündete Andrew Vowles dann nach Fertigstellung der Aufnahmen. In der Rückschau ist diese angespannte Atmosphäre oft mit dem – für Massive-Attack-Verhältnisse – schroffen Soundbild in Verbindung gebracht worden, das eher auf den Prog Rock der 70er und die Industrial Music der Postpunk-Ära als auf die Club-Kultur der 80er verwies. Die Art Musik, die einem den Hals zuschnüren und im selben Moment das Gefühl wohliger Erlösung schenken konnte, ohne dass man genau wusste, warum.
Mit den klaustrophobischen Songs dieser Platte hatten Massive Attack 1998 den Beginn des 21. Jahrhunderts im Pop annonciert, MEZZANINE ist das schwierige Album, das einer schwierigen Epoche visionär vorauslief. Tricky hatte die „Pre-Millennium Tension“ schon 1996 angedeutet, in seinen dem Publikum abgewandten Auftritten komplett im Dunkeln den Status des Künstlers als Star in erster Reihe hinterfragt. Beth Gibbons und Geoff Barrow hatten mit ihrem Portishead-Debüt DUMMY 1994 ein Indie-Publikum erreicht, das seine Nachdenklichkeit mit verschleppten HipHop-Beats buchstabieren lernte.
„Die Musik ist jedenfalls nicht geeignet für Leute, die von neun bis fünf arbeiten und sich danach entspannen wollen.“
Das waren die drei Platten, mit denen wir erwachsen werden konnten, ohne den gerade gültigen Ausdrucksformen des Erwachsenseins auf den Leim zu gehen. 3D hat das einmal so formuliert: „Die Musik ist jedenfalls nicht geeignet für Leute, die von neun bis fünf arbeiten und sich danach entspannen wollen.“ Der Sprech- und Flüstergesang von 3D und Daddy G war ein steter Unruhefaktor, in den richtigen Momenten wussten die Macher dieser Musik aber auch, in ihren Werken zu verschwinden und den eingeladenen Sängerinnen und Sängern Raum zu schenken.
Dieses Modell nahm eine Praxis vorweg, die vor allem in HipHop und R’n’B Standard werden sollte. Es erinnerte aber auch an eine traditionelle Aufgabenteilung im Pop, wie sie bis in die erste Hälfte der 1960er noch vorherrschte, hier der Autor, dort die Interpreten. Liz Fraser, die während der Aufnahmen zu MEZZANINE den Tod ihres Freundes Jeff Buckley verarbeiten musste („Teardrop“, „Black Milk“, „Group Four“), Roots-Reggae-Sänger Horace Andy („Angel“, „Man Next Door“, „One Love“) Shara Nelson („Unfinished Sympathy“, „Safe From Harm“), Tricky („Blue Lines“, „Daydreaming“) und Tracey Thorn („Protection“) ließen ihre Gastrollen hinter sich und definierten die Aufnahmen mit intensiven Gesangsparts, so viel Luft bot die Zusammenarbeit mit Massive Attack.
Robert Del Naja, in St. Andrews, einem Vorort von Bristol geboren, war als Teenage-Sprayer mit einer Schablone in der Nachbarschaft unterwegs, die die Konturen eines Breakdancers zeigte. Er debütierte als Mädchen für alles im DJ-Kollektiv The Wild Bunch, verkaufte Bier aus dem Kofferraum eines Autos, dekorierte Auftrittsorte, packte mit an, wenn es um den Transport der Riesen-Speaker ging. Er war für die Graffiti zuständig und gab den MC des Soundsystems. Mit Massive Attack setzte er den romantischen Kollektivgedanken im kontrollierten Rahmen einer Band fort.
Die Band entdeckte in Punk, Reggae und HipHop vor allem eine gemeinsame linke Haltung: ein Aufbegehren gegen das, was kulturell und gesellschaftlich in den Jahren des Thatcherismus festgeschrieben worden war. Man wird in den Songs ihres Debüts BLUE LINES von 1991 aber keine stotternden Punkrock-Gitarren hören, das Album folgt eher Stimmungsbildern aus den Inner Citys dieser Zeit, es erzählt von der Suche nach Liebe und Würde, von der Paranoia im Alltag, und die Musiker erledigten ihren Job, als kosteten sie ihre Erzählungen in aller Ruhe und Langsamkeit aus.
Schön, kühl, warm, hypnotisch, verstörend, retrospektiv, aber auch elektronisch nach vorne gewandt.
Slow is the new fast. Die drogige Nachtmusik, die Massive Attack aus ihrem weit gefächerten Sample-Baukasten entwickelten, brachte eine Revolution im Pop auf die Bahn, die niemand auf der Rechnung gehabt hatte. Sie wurde im allerersten Moment noch nicht einmal als solche wahrgenommen, weil sie so wenig von einem Umsturz in sich zu tragen schien. Ganz behutsam hatte die Band die Grenzen zwischen ehedem als weiß oder schwarz charakterisierten Stilen abgetragen. Massive Attack verwandelten das DJ-Programm des Wild Bunch in einen unterschwellig brodelnden Mix aus tiefen karibischen Bässen, Elementarteilchen von Soul und HipHop, einer Andeutung von Jazz und den Erzählstrukturen des Pop.
BLUE LINES war allerhand: schön, kühl, warm, hypnotisch, verstörend, retrospektiv, aber auch elektronisch nach vorne gewandt. Eine Feier der Komplexität, die damals die Zukunft versprach und seitdem die Gegenwart nicht mehr verlassen hat. Die Spur der Melancholie, die diese Aufnahmen hinterließen, reicht bis zum elektronisch gedubbten Blues der Gorillaz und den subsonischen Basslandschaften des Phantoms Burial. Selbst der beginnende Siegeszug des Britpop, der die alte Ordnung aus der Ära vor BLUE LINES zwischenzeitlich wiederherzustellen versuchte, hat diese Eindrücke nicht mehr verwischen können.
TripHop; der neuen Musik aus dem Epizentrum Bristol war bald ein Etikett verpasst worden. Wiedergefunden haben sich Massive Attack darunter nie. Und irgendwann war TripHop dann auch nicht viel mehr als ein Lounge-Music-Hype, den man für die Kaffeehausketten dieser Welt aufgemacht hatte, ein Sound-Fahrstuhl zwischen Fernsehserien und schummerigen Hotel-Bars. BLUE LINES erinnert aber heute noch an diesen epochalen Moment der Verlangsamung, in dem die Popmusik Zeit fand, voller Sehnsucht nach vorn und nach hinten zu schauen, in dem das fantastische Referenzspektrum im Sample so deutliche Signaturen hinterlassen konnte.
Massive Attack operierten über weite Strecken in einem Beatbereich, den der Kritiker Simon Reynolds mit dem Begriff „spliff tempos“ beschrieb.
Massive Attack operierten über weite Strecken in einem Beatbereich, den der Kritiker Simon Reynolds mit dem Begriff „spliff tempos“ beschrieb, die Dub-Produktion schaffte die tiefen Räume für die halluzinogenen Sounds, die Musiker ließen sich in die Klangwelt ihrer Headphones fallen. „Unfinished Sympathy“, der erste Klassiker dieser klassischen Produktion, einer Melodie entsprungen, die Shara Nelson, eine vorher unbekannte Sängerin, während der Sessions vor sich hersummte und nachher mit einer 40-köpfigen Streichersektion auf das Format einer Hymne beförderte, ging vergleichsweise weit nach vorne, und wenn das Disco war, durfte man Disco die Eroberung der Melancholie attestieren.
Als die DJs und Beatmaker 1994 PROTECTION veröffentlichten, war ihre Arbeitsweise schon von den Bands und Künstlern kopiert worden, die sie zuvor protegiert hatten. 100TH WINDOW, von Del Naja nur mit Unterstützung von Davidge und erstmals ohne den Einsatz von Samples aufgenommen, erschien 2003 vor dem Hintergrund eines anhaltenden Post-9/11-Traumas. Großbritannien und eine „Koalition der Willigen“ unterstützten die USA bei der Bombardierung des Irak, Del Naja und Damon Albarn hatten an den Antikriegs-Demos vor den Houses Of Parliament teilgenommen und eine „No War On Iraq“- Anzeigenkampagne ins Leben gerufen.
In den folgenden Jahren wurde es ruhiger um Massive Attack, der musikalische Output begann zwischen Soundtrackarbeiten („Unleashed“,„In Prison My Whole Life“), vereinzelten neuen Tracks und Remix-Veröffentlichungen zu zerfleddern. Mit dem Album HELIGOLAND (2010) bezog 3D sich wieder mehr auf die Genrecollagen der 1990er, Massive Attack, erneut mit Daddy G an Bord, konnten überzeugen, „weil sie dem Schmerz eine Schönheit abtrotzen, die man nicht als Style, Flavor oder Trend diskreditieren kann“, schrieb Jürgen Ziemer in seiner AlbumKritik. Andererseits machte es die Band dem Publikum mit ihren langen Albumpausen alles andere als leicht, die Taktung des nicht gerade umfänglichen Gesamtwerks entsprach eher dem Geist eines somnambulen Bohemiens als dem Arbeitstempo eines Vertreters der Plattenindustrie.
„Fantom“ modulierte den Sound über biometrische und Bewegungsdaten des Nutzers.
Genau genommen begründete die Verschleppung bei Massive Attack aber erst den Unterschied. Die einstigen Pioniere konnten sich vollendet im Studio vergraben, während die Popmusik, die sie selbst einmal inspiriert hatten, an ihnen vorbeizog. Statt ihr eigenes Sound-Denkmal mit den Launen der Zeit zu dekorieren, nutzten sie die Zusammenarbeit mit Designern, Programmierern und Fachleuten für Künstliche Intelligenz, um ihre Musik in neue digitale Zusammenhänge zu stellen. Die App „Fantom“ war 2016 das erste Lebenszeichen von Massive Attack nach vielen Jahren. Noch vor Veröffentlichung einer fertig gemixten EP stellte die Band ihrem Publikum vier Songs als Rohmaterial zur Verfügung,
„Fantom“ modulierte den Sound über biometrische und Bewegungsdaten des Nutzers. 2016 brach aber auch die Vergangenheit in die frisch algorithmisierte Welt von Massive Attack ein. Die Zeile „Hell is round the corner where I shelter“ wurde Begleitschutz auf allen Bühnen: Massive Attack konnten 2016 ihr 1994 veröffentlichtes Stück „Eurochild“ als eine Art Sterbeamt live wiederaufführen, als einen ziemlich düsteren Kommentar zur Abstimmung der Briten, aus der EU auszutreten. „Als Kinder von Einwanderern sind wir beide sehr beunruhigt über die Situation. (…) Wir können die Zornigen und Rassisten nicht so weitermachen lassen. Das ist absoluter Bullshit“, ließ Del Naja sein Publikum wissen.
Zuletzt wurde publik, dass die Band die Musik von MEZZANINE für eine Sammleredition auf DNA hat speichern lassen. Wer die Geister der Songs zum Leben erwecken möchte, betätigt eine Spray-Flasche. DNA soll als Speicher Hunderte von Jahren funktionieren. Damit wäre die Zukunft gesichert. Längst hat MEZZANINE zum Debüt BLUE LINES aufgeschlossen, beide Veröffentlichungen gelten als große Konsensalben – Prädikat besonders wertvoll und einflussreich.
Kommerziell erfolgreicher war MEZZANINE, vier Millionen Mal verkaufte sich die Platte bis heute. Kein Album der Band zog einen längeren Rattenschwanz an Live-Terminen hinter sich her, 123 waren es. „Teardrop“ erreichte Platz 10 in den britischen Charts und begleitete als Titelmelodie die lebensrettenden Maßnahmen des Misanthropen „Dr. House“, durchschnittlich 35 Millionen Zuschauer sahen die Arztserie in den Neunzigern in den USA.
Heute räumt 3D ein, wie irrelevant die Veröffentlichung von Alben geworden ist. „Du bringst eine Platte raus, um eine Tournee zu rechtfertigen.“ Oder du lässt es, wie Massive Attack, lieber gleich sein und bespielst dein größtes Werk noch einmal neu, in einem herausfordernd auf unsere Zeit schielenden Kontext. Im Zweifelsfall hinterlässt das mehr Spuren als die nächstbeste Runde in der schneller drehenden Tretmühle des Pop.
Diese Geschichte erschien erstmals im Musikexpress 06/2019.