Behutsam kaputt machen
Muss denn jeder CD-Player immer eingeschaltet werden? Ein Plädoyer für mehr Zivilcourage.
Gerade war eine junge Literatin im Radio, die mit hoher Empathie und einer gewissen Vergeistigung im Tonfall auseinandersetzte, ihre Literatur solle tröstend sein, sie wolle die Menschen gerne trösten und sie könne es schwer verstehen und ertragen, wenn sie die Leute in den Cafés sitzen und über Belangloses reden sehe – sie möchte dann hingehen und die Menschen fragen: „Sag, wie geht es dir damit, dass du einmal sterben musst?“ Ich aber sage: „Gute Frau, wenn du mich einfach in Ruhe mit meinem Spezl eine Halbe trinken und ein bisschen über Belangloses ratschen lässt, dann brauchst du mich hinterher auch nicht zu trösten.“ Ich weiß nicht, ob man das dann schon eine Win-Win-Situation nennen kann, aber auf jeden Fall wäre es weniger Getue für alle Beteiligten. Um Himmels willen.
Das letzte Mal, dass ich in einem Café Trost gebraucht hätte, war vor ein paar Wochen auf Besuch im Norddeutschen – und klar, dass dann natürlich keiner da war, der einen in den Arm genommen hätte: „Sag, wie geht es dir damit, dass der Kellner gerade eine Adoro-CD eingeschaltet hat?“
Ja, es ist wahr. Wir waren aus der nieseligen Kälte in das noch leere, doch ansprechend vorgeheizte Café gestapft, hatten unsere erkalteten Nieselmäntel auf dafür bereitgestellte Haken geworfen und waren in scheint’s hand- und fußgeschnitztes Mobiliar gesunken, um nunmehr die Karte mit den Heißgetränken in Augenschein zu nehmen, kurz: In unseren Augen wohlverdiente Gemütlichkeit drohte sich auszubreiten, da grätschte der Kellner dazwischen, und zwar buchstäblich: Mit einem kleinen Ausfallschritt in Richtung eines Holzbordes zu seiner Linken drückte er auf den Knopf eines eben noch begrüßenswert stillen CD-Players und verwandelte diesen Hort der aufkeimenden Wohligkeit in einen Ort, an dem, nun: eine Adoro-CD läuft.
Wobei ich nicht einmal sicher weiß, ob es tatsächlich eine Adoro-CD war oder einfach ein selbst gebrannter Mix mit, was weiß ich, den zynisch-nihilistischsten Musikvernichtungs- und Seelenschändungstracks der Saison, denn: Das Lied lief auf Repeat – was mir freilich erst nach ein paar Runden klar wurde. So konsterniert war ich, unvorbereitet und quasi in der Öffentlichkeit mit dem unheiligen Geknödel dieser abominablen Goldkehlchen konfrontiert zu werden, ich muss minutenlang ins Leere gestarrt haben. Dann klammerte ich mich nach Kräften am Tischgespräch fest – und ließ dem Grausen seinen Lauf.
Noch immer mache ich mir Vorwürfe, so tatenlos geblieben zu sein. War diese so offensichtlich irrsinnige Beschallung nicht ganz klar ein Hilfeschrei gewesen? Was ging in diesem Kaffeekocher vor? Heute bin ich überzeugt: Zivilcourage und beherzt-empathisches Eingreifen wären angezeigt gewesen und ich hoffe, beim nächsten Mal mehr Mut in mir zu finden. Den Menschen Trost bringen. Mit ihnen reden. Ihnen behutsam ihre schrecklichen CDs abnehmen. Und kaputt machen.