101 geheime Lieblingsplatten
Es gibt Platten, die teilt man mit keinem. Man behält sie für sich und bewahrt sie wie einen Schatz. Niemand soll je von ihnen erfahren, sonst würden sie nur ihre Magie verlieren. Für den Musikexpress machen geschmackssichere Musiker mal eine Ausnahme – nein, sogar gleich 101 Ausnahmen: Tocotronic, Noel Gallagher, Lana Del Rey, Jarvis Cocker, James Murphy und viele weitere geben uns kostbare Geheimtipps aus ihren Plattenregalen.
JUSTICE über Electro
Die größten Rockstars der Dance Music über eine Handvoll vergessener elektronischer Meisterwerke
1
JACKSON AND HIS COMPUTER BAND – Smash (2005)
Xavier de Rosnay: Eine One-Man-Band eines Franzosen namens Jackson Fourgeaud, dessen erstes und bislang einziges Album bereits 2005 auf Warp erschien, aber nach wie vor zu unseren Lieblingsplatten zählt. Der Typ entwickelte fast im Alleingang, was man dann den „French Touch #2“ nannte. Das Album hatte einen erheblichen Einfluss auf uns und diverse andere Leute, wurde aber nie angemessen gewürdigt. Es war eine der Blaupausen, die wir bei Justice benutzten, da es Romantizismus mit Härte verbindet. Wir empfanden das Album als eine Wasserscheide in unserer eigenen Arbeit. Mit „Radio Caca“ gibt’s ein besonderes Highlight – wie eigentlich alle seine Singles -, aber das gesamte Album ist eine großartige, inspirierende Platte.
2
CORNELIUS – Fantasma (1997)
Gaspard Augé: Das ist ein Japaner, sein richtiger Name ist Keigo Oyamada. Hier legte er ein unglaublich verspieltes Album vor – was in der elektronischen Musik der damaligen Zeit eher ungewöhnlich war. Er mischte Pop mit klassischer und elektronischer Musik und lieferte eine der besten Shows, die ich je gesehen habe. Er spielte mit Live-Musikern eigentlich genau das Album nach – was für uns sicher nicht nachahmenswert ist -, aber diese Japaner agierten wie Roboter. Es war jedenfalls ungemein beeindruckend. Es machte auch Spaß, seine Musik mit Kopfhörern zu hören, weil er einen neuen Aufnahmeprozess erfunden hatte, den er „3-D Stereo“ oder so ähnlich nannte. Seine anderen Alben sind ebenfalls empfehlenswert, wurden im Lauf der Jahre aber immer abstrakter und experimenteller. Das erste Album gefällt mir einfach am besten, weil es den größten Pop-Appeal hat.
3
THE PRODIGY – Always Outnumbered, Never Outgunned (2004)
De Rosnay: Sie bekamen von den Kritikern damals die Kante, aber wir lieben das Album. Es war für The Prodigy ein Schritt nach vorne, weil sie synthetischer und funkiger klangen als auf ihren früheren Platten. In Frankreich wurden sie jedenfalls dafür von allen verehrt. Wenn man das Jackson-And-His-Computer-Band-Album mit dieser Platte in einen Mixer wirft, bekommt man genau das, was 2005 in Frankreich auf der Tagesordnung stand. Ich las, dass sie das Album komplett auf dem Laptop gemacht hätten. Wenn das stimmt, hat es dafür jedenfalls einen unglaublichen Sound.
4
NEIL YOUNG -Trans (1982)
Augé: Stammt von 1982 und ist wahrscheinlich das Album, das Neil-Young-Fans am meisten hassen. Die Geschichte hinter dem Album ist hochinteressant: Neils Sohn (der seit Geburt eine Hirnlähmung hat – Anm. d. Red.) reagierte auf Geräusche von Synthesizern und Vocodern, also nahm Neil dieses Album auf, um mit ihm zu kommunizieren. Es ist innerhalb seiner Diskografie sicher das Album, das am meisten herausfällt, aber es hat einige großartige Songs. Mein Favorit ist „Sample And Hold“ – ich vermute mal, dass er diesen Titel wählte, weil das eine der Funktionen auf dem Synthesizer ist. Trans war ein mutiger Schritt – und ist ein lobenswertes Beispiel für einen etablierten Musiker, der trotz aller Risiken macht, was er will.
5
LES RYTHMES DIGITALES – Darkdancer (1999)
De Rosnay: Das Album stammt von Jacques Lu Cont alias Stuart Price und wurde seinerzeit als Platte vermarktet, die einen 80s-Sound habe. Aber wenn man es heute anhört, klingt es überhaupt nicht nach den Achtziger-, sondern definitiv nach den Nullerjahren. Alle Tracks folgen dem gleichen Prinzip: Es gibt einen vokalen Groove und dann eine synthetische Bass-Melodie. Manchmal meint man, es sei immer der gleiche Song, aber das ist völlig okay. Die Singles sind hervorragend, aber das Album ist es auch. Wir hören uns nur Musik an, die Hooks hat – und hier gibt es ein ganzes Album davon, einen nach dem anderen.
Pink Eyes (Fucked Up) über Punk
Das Fucked-Up-Frontschwein über vergessene Hardcore-Perlen, für die er sich noch immer das T-Shirt vom Körper reißen würde
6
RUDE KIDS – Safe Society (1979)
Das Album wird immer genannt, wenn es um die Frage geht, wer die erste Hardcore-Platte aufnahm. Viele sagen, es sei die „Out Of Vogue“-EP von The Middle Class aus dem Jahr 1978 gewesen, andere tippen auf Black Flags erste Single. Aber für mich ist Safe Society das erste komplette Album des Hardcore – und es ist obendrein so viel aggressiver als der ganze Rest. Die LP ist kaum noch erhältlich – selbst in der schwedischen Heimat der Band, wo ich meine Kopie aufgetrieben habe, sind die Rude Kids so gut wie vergessen. Für mich sind sie aus der Punkrock-Geschichte aber unmöglich wegzudenken.
7
LEATHERFACE – Mush (1991)
Die englischen Punk-Bands in den späten 80er-, frühen 90er-Jahren legten erstaunlichen Wert auf die Melodie. Natürlich war die alte Aggression noch immer vorhanden, aber speziell auf diesem Album passen alle Elemente perfekt zusammen. In meinen jüngeren Jahren war ich ein Fan der Punkband Hot Water Music aus Florida, und aufgrund dieser Vorliebe empfahl mir jemand, doch einmal Leatherface zu hören. Ich glaube, man hört hier den Ausgangspunkt für Bands wie Against Me! und eben auch Hot Water Music. Selbst eine Band wie The Gaslight Anthem scheint eine Prise Leatherface abbekommen zu haben.
8
THE COMES – No Side (1984)
Eine All-Female-Band aus Japan, die Aggression auf ein neues Niveau hievte. Das Album ist roh und liefert genau das, was man von japanischem Hardcore gemeinhin erwartet. Ich hatte jahrelang nur ein Bootleg des Albums und konnte mir erst ein Original kaufen, als wir in Japan auf Tour waren. Fucked Up coverten einen The-Comes-Song namens „Panic“, aber da ich den japanischen Text nicht verstand, sang ich stattdessen immer wieder die Worte „I like The Comes“.
9
FEEDERZ -Ever Felt Like Killing Your Boss? (1983)
Wenn man das Wort Punk jemandem erklären müsste, der seit Tausenden von Jahren im ewigen Eis eingefroren war, sollte man ihm diese Platte vorspielen. Sänger Frank Discussion war ein Polit-Aktivist, ein Scherzkeks und ein völlig abgedrehter Hund. Einmal buddelte er die Kadaver aus einem Tierfriedhof aus und dekorierte damit seine Bühne. Die Hülle dieses Albums ließ er mit Schmirgelpapier überziehen, damit all deine anderen Vinylplatten verkratzt werden. Feederz waren politisch engagiert und aggressiv, nahmen sich aber selbst nicht tierisch ernst. So hätten die Sex Pistols klingen können, wenn sie nicht von Leuten in der Musikindustrie manipuliert worden wären. Die Pistols waren eine Juxnummer, bevor sie sich als ernst zu nehmende Band präsentierten – Feederz hingegen waren eine echte Band, die lustvoll über die Stränge schlug.
10
SHEER TERROR – Just Can’t Hate Enough (1990)
Was die Kommunikation mit dem Publikum betrifft, gibt’s niemanden, der dem Sänger von Sheer Terror, Paul Bearer (ein Wortspiel mit dem Begriff „pall bearer“, zu Deutsch „Leichenträger“ – Anm. d. Red.), das Wasser reichen kann. Er ist der geborene MC, der die Zuschauer komplett anmachen kann, aber gleichzeitig so selbstironisch ist, dass man’s ihm nicht einmal übel nimmt. Ich habe jedenfalls unfassbar viel von ihm gelernt. Und es gibt wenige Platten, die so misanthropisch sind wie diese hier. Es ist kein faschistischer Hass, aber wenn man einen beschissenen Tag hatte und die ganze Gesellschaft auf den Mond schießen möchte, wirkt dieses Album wahre Wunder. Als ich einmal auf dem Cover des britischen Musikmagazins „NME“ war, hörte ich hintenherum, dass Bearer mich völlig niedermachte. „Was hat dieser Typ auf dem, NME‘-Cover verloren? I’m the original fat punk!“ Ich fühlte mich in meinem ganzen Leben noch nie so geehrt. Seine Worte waren eine Auszeichnung, die ich bis ins Grab tragen werde.
11
ROSTAM BATMANGLIJ (VAMPIRE WEEKEND) über
JULIAN CASABLANCAS – Phrazes For The Young (2009)
Ein Album, das nie wirklich gewürdigt wurde. Man braucht seine Zeit, um einen Zugang zu finden, und das ist vermutlich der Grund, warum ihm so viele Leute keine Chance gegeben haben. Wenn man die Platte nur zwei, drei Mal auflegt, kann man sie leicht überhören, aber danach beginnt sie zu wachsen. Es ist ein ausgezeichnetes Album, das viele Leute, die ich respektiere, ebenfalls schätzen. Ich liebe die Texte. Sie kommen von einem sehr realen Ort, mit dem ich mich identifizieren kann. Am Ende des letzten Songs „Tourist“ kommt der Refrain „Feel like a tourist“ and dann die letzte Zeile „If you’re here with me then I’ll always be at home“. Die Art und Weise, wie er das singt, ist einfach großartig. Definitiv eins meiner Lieblingsalben aus den letzten zehn Jahren. Wer sich meinen iPod anschaut, wird es dort unter „most played“ finden.
12
BRETT ANDERSON (SUEDE) über
MOMUS – The Poison Boyfriend (1987)
Momus ist ein Avantgarde-Songschreiber, der eigentlich Nick Currie heißt und früher ein Journalist war. Seine ersten Platten waren auf mich und die frühen Suede ein nicht zu unterschätzender Einfluss. Meine damalige Freundin Justine Frischmann und ich hörten uns seine Platten oft zusammen an und liebten diese unterkühlten, distanzierten sexuellen Metaphern. Es liegt eine wundervoll undefinierbare Melancholie über diesem zweiten Album, und ich habe das Gefühl, dass Momus diese Magie auf späteren Alben verloren ging, die immer hirniger und intellektueller wurden. Auf The Poison Boyfriend ist seine Poesie wirklich noch zerbrechlich, sie erinnert mich an die Atmosphäre auf Jacques-Brel-Platten mit ihrer spielerischen und doch intensiven Teilnahmslosigkeit. Texter wie Momus, Neil Tennant und Morrissey machten mir klar, dass man Lyrics schreiben kann, die nicht nur auf „Ooh baby maybe yeah yeah yeah“ hinauslaufen. Ich lernte von Momus, dass man sich in einem Text mit Nuancen und Details beschäftigen muss, ich lernte, dass die Umkehrung der Rock-Klischees – also Songs über Scheitern und Abhängigkeit – genauso intensiv sein können wie Songs, die von John-Lennon- oder Jim-Morrison-Imitatoren gesungen werden. Ich erinnere mich, dass Justine Momus einmal auf einer Party traf und ihm eine Kopie einer frühen Suede-Single gab. Die Nummer war abgrundtief schlecht. Als er uns später eine vernichtende Kritik dazu schickte, war der Song für mich immerhin endgültig gestorben und ich konnte weitermachen.
13
STEEV LIVINGSTONE (ERRORS) über
WOLFGANG RIECHMANN – Wunderbar (1978)
Das Album verbindet die synthetischen Elemente, die Jahre zuvor von Kraftwerk und Tangerine Dream entwickelt worden waren, mit dem Live-Instrumentarium von Bands wie Neu! und Can. Riechmann spielte auch zusammen mit einigen Größen der deutschen Elektronik, behielt dabei aber immer seinen distinktiven Sound. Man sollte meinen, dass ein Track wie „Himmelblau“ genauso im kollektiven Bewusstsein verankert sei wie Kraftwerks „Trans-Europa Express“ oder „Hallogallo“ von Neu!, aber Riechmann blieb nur eine Fußnote in der Krautrock-Geschichte. Das Album hat einen deprimierenden Ausklang, der umso ominöser wirkt, als Riechmann die Veröffentlichung des Albums nicht mehr erlebte: Drei Wochen zuvor wurde er in Düsseldorf von zwei Betrunkenen niedergestochen.
14
GRAHAM COXON über
MY BLOODY VALENTINE –
Ecstasy And Wine (1989)
Kevin Shields wird mich vermutlich hassen, dass ich eine Compilation ausgewählt habe, aber ich liebe dieses Album: wunderbare kleine Popsongs mit Haken und Ösen, überzogen mit einer Glasur aus White Noise. Was einen schnell zu dem Fehlschluss verleiten kann: „Mein Gott, wie kinderleicht. Man schreibt einfach einen simplen Popsong und pappt reichlich Noise drauf“ – fast so wie bei The Jesus And Mary Chain. Aber ganz so einfach ist es nicht. Ich weiß, dass Kevin es nicht als vollwertiges Album wahrnimmt, weil es eine Compilation zweier EPs ist, aber mir hat dieses Album immer viel bedeutet. MBV sind eine meiner Lieblingsbands, aber meistens lege ich genau dieses Album auf, weil es klanglich so interessant und einfach bezaubernd ist. Irgendwie scheint es in der öffentlichen Wahrnehmung verloren gegangen zu sein – wobei ich fast das Gefühl habe, dass es Kevin absichtlich „verlieren“ will, so wie ein Hundebesitzer, der seinen Hund aus dem Haus aussperrt. Dabei gibt es hier brillante Songs – wie „Can I Touch You“ und „(You’re) Safe In Your Sleep“.
15
CLAIRE BOUCHER (GRIMES) über
AQUA – Aquarium (1997)
Das wird gerne als halb gares Novelty-Album abgetan, aber ich fing an, es mir bewusst wieder anzuhören und konnte nur feststellen, dass das für einen DJ die beste Musik auf der ganzen Welt ist! Alle fahren auf Aqua ab – und jeder Track hier ist perfekt produziert und ein absoluter Killer. Für einen DJ ist es fast unmöglich, nach Aqua noch andere Musik zu spielen, weil es schneller und lauter als alles andere ist, aber trotzdem diese typischen Pop-Qualitäten wie Vers und Refrain hat, die für einen DJ so wichtig sind. Ich war vermutlich noch auf der Grundschule, als das Video zu „Barbie Girl“ veröffentlicht wurde – es war damals ein Riesen-Ding. Aber wenn ich mir das Album heute völlig ironiefrei anhöre, bin ich von seiner Qualität einfach überrascht. Es ist vielleicht ein Joke-Album, aber eines, das man durchaus ernst nehmen sollte.
16
JOE MOUNT (METRONOMY) über
KIT HAIN – Looking For You (1982)
Mein Klavierlehrer auf der Schule hieß Julian Marshall, und ich hörte Gerüchte, dass er einmal eine Hit-Single gehabt habe. Und tatsächlich: Zusammen mit seiner Songwriting-Partnerin Kit Hain hatte er unter dem Namen Marshall Hain einen Hit namens „Dancing In The City“. Ich entdeckte dann, dass sich Kit Hain später an einer Solokarriere versuchte, aber wohl wenig Erfolg hatte, weil ihr das Songschreiben wichtiger war als ihr Image. Looking For You erschien 1982 und ist erstaunlich aktuell: „Uninvited Guests“ würde sich als Sample auch gut auf einem Justice-Album machen, „Spirits Walking Out“ und „Awakening Again“ klingen wie die Vorlagen für Singles von Marina & The Diamonds. „Danny“, der einzige Track des Albums, der ein kleiner Hit wurde, ist wohl mit dem Terminus „Stadion-Folk“ am besten beschrieben. Vor allem höre ich das Album aber immer wieder wegen seiner Bassläufe – Kit war eine Bassistin. Der Bass ist ein prominenter Bestandteil der Aufnahmen, und es waren vermutlich Eigenarten wie diese, die ihrem Solo-Erfolg im Weg standen. Looking For You ist vielleicht nicht gerade das verlorene Meisterwerk, sollte aber von mehr Leuten gehört werden. Kit konzentrierte sich später aufs Songschreiben und arbeitete mit Leuten wie Roger Daltrey, Heart, Chaka Khan, Kiki Dee, Fleetwood Mac, Cher und Cyndi Lauper zusammen.
17
JOHNNY ROTTEN über
THE ABYSSINIANS – Satta Massagana (1976)
Ich liebe alles, was Reggae ist, aber Satta Massagana ist das Album, dem alle anderen nur nachhinken können. Die Band war ihrer Zeit weit voraus, und das Album ist fast schon so etwas wie die Bibel der Rastafaris. Ich trieb mein Exemplar irgendwann in den Siebzigern auf, und schon damals war es eine Rarität. Ich weiß auch noch, dass ich es von Don Letts (Mitglied von Big Audio Dynamite – Anm. d. Red.) bekam. Dank dir, Don! Ich hab’s noch immer. Es war meine Einführung in den Reggae. In Finsbury Park im Norden von London, wo ich groß wurde, wuchs man eigentlich automatisch mit dieser Musik auf. Man hörte die verschiedensten Arten von Musik, weil hier die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen zusammenlebten. Ich mochte auch Motown-Platten, aber aus dieser Platte sprach eine ganz eigene Religiosität – ohne all die Marotten und Luftschlösser der Religion, wie wir sie heute kennen. Sie klang voller Hoffnung, voller Intelligenz, auch voller Trauer – und das tut sie für mich bis zum heutigen Tag. Es gibt atemberaubende Songs auf dem Album – „Black Man’s Strain“, „I And I“, „Forward On To Zion“, „Know Jah Today“ -, die heute allesamt Klassiker sind. Ich glaube nicht mal, dass man vor diesem Album überhaupt von Reggae gesprochen hat, dass man den Begriff kannte – damals lief das noch unter Ska. Die Abyssinians waren die Hohepriester des Genres, denen alle anderen folgten. Aber sie spielten nicht für Geld und Ruhm – sie verschwanden einfach. Und sie meinten wirklich, was sie sagten.
18
FRANKIE FRANCIS (FRANKIE & THE HEARTSTRINGS) über
THE BEAUTIFUL SOUTH – Welcome To The Beautiful South (1989)
Ich höre mir alles an, was aus dieser Ecke kommt – von The Housemartins über The Beautiful South bis zu Paul Heatons Solo-Sachen. Er ist für mich der brillanteste und produktivste Songschreiber, den England je hervorgebracht hat. Besonders hat es mir Welcome To The Beautiful South angetan. Paul ist ein Arbeiterklassen-Sozialist aus Englands Norden und schreibt über alltägliche Ereignisse; er hat eine großartige Stimme und weiß, wie man Melodien aus dem Ärmel schüttelt. Trotzdem scheint er immer mehr in Vergessenheit zu geraten, weil die Housemartins nie versuchten, eine „coole Band“ zu sein. Aber genau das schätze ich so an ihnen.
19
JACK STEADMAN (BOMBAY BICYCLE CLUB) über
Múm – Finally We Are No One (2002)
Ich habe die Band aus Island vor Kurzem zum zweiten Mal entdeckt. Finally We Are No One ist eines meiner ewigen Lieblingsalben. Es ist zerbrechlich, einfach nur schön und hat einen vollkommen organischen Sound. Die perfekte Musik für die Zeit, wenn die Tage kürzer werden und die Temperaturen fallen – das ideale Winter- und Weihnachtsalbum. Ob es ein Einfluss auf Bombay war? Ich glaube, diese Subtilität haben wir bislang noch nicht erreicht – so sehr wir uns auch bemühten. Ich vermute aber, dass es die Sachen, die ich außerhalb der Band mache, weitaus mehr geprägt hat.
20
DYLAN BALDI (CLOUD NOTHINGS) über
HAPPY REFUGEES – Return To Last Chance Saloon (1984)
Ein Album, das in puncto Qualität und Style gleich neben den frühen Platten von The Fall auftauchen sollte, aber irgendwie immer unter dem Radar der Indie-Szene abgetaucht ist. Die Songs sind klaustrophobische, Mark-E.-Smith-ähnliche Vignetten der englischen Gesellschaft und der damaligen politischen Landschaft, haben den Zahn der Zeit aber besser überstanden als das meiste Material der populäreren Bands. Die Musik ist kaum zu fassen und entzieht sich jeder Schublade: „Hamburger Boy“ fängt als vergleichsweise schnörkellose Punk-Nummer an, um dann in einen Falsett-Chor umzukippen, während „Screaming And Shouting“ auch gut auf einem Deerhunter-Album vorstellbar wäre. Last Chance Saloon ist beunruhigend, eigenwillig und wird völlig zu Unrecht ständig übersehen.
21
JUSTIN YOUNG (THE VACCINES) über
THE ZOMBIES – Odessey And Oracle (1968)
Das war für mich und meine Band schon immer eins der wichtigsten Alben. Von Musikern werden die Zombies geschätzt, aber die Öffentlichkeit scheint sie einfach nicht in der Peilung zu haben. Ich denke, dass das Songwriting und die Melodien genauso stark sind wie im Falle der Kinks oder anderer Bands, die in diesem Zusammenhang gern genannt werden. Es überrascht mich immer wieder, dass dieses Album nicht in jedermanns Sammlung ist. Ich selbst entdeckte es, weil ich es auf dem College von einem Kumpel bekam, der Experte in Sixties-Musik war. Er gab mir einen ganzen Schwung Alben, die zunächst bei mir Staub ansetzten, bis ich sie mir eines Tages anhörte und dachte: „Scheiße, warum hab ich die Sachen nicht früher gehört?“ Mir prägte sich zunächst „Time Of The Season“ ein, aber jeder Song auf diesem Album ist sensationell.
22
SAM KILCOYNE (S.C.U.M) über
LES RALLIZES DÉNUDÉS – Heavier Than A Death In The Family (2002)
Ein Freund von mir legte im Londoner Club Amersham Arms Platten auf und nannte die Veranstaltung „Heavier Than A Death In The Family“. Den Namen hatte er von diesem Album, das eine Compilation verschiedener Bootlegs ist. Er spielte viel S.C.U.M, aber auch japanischen Underground – Boredoms, Ghosts und eben auch Les Rallizes Dénudés. Als ich dieses Album zum ersten Mal in die Hand bekam, zerriss es mich förmlich. Man möchte es „bösartig“ nennen, aber es ist gleichzeitig auch so süß. Ich hatte natürlich keine Ahnung, was sie da auf Japanisch sangen, aber gerade das liebte ich daran. Man hat sich eben im Kopf seine eigenen Bilder dazu gemalt – und das waren in meinem Fall immer wahnsinnige. Auf dem Album hörte ich brillant-bösartige Gitarren-Sounds, wie ich sie noch nie zuvor im Leben gehört hatte. Ich tue mir inzwischen nicht mehr das ganze Album an, weil es in mir ein Gefühl auslöst, als würde man einen Schraubenzieher in mein Hirn drehen. Aber es gehört trotzdem zu den Top 5 meiner Lieblingsalben – einfach, weil es so gnadenlos extrem ist.
23
LANA DEL REY über
NICK DRAKE – Five Leaves Left (1969)
Von den vergessenen Meisterwerken, die ich vorschlagen könnte, sind einige bereits wiederentdeckt worden, aber ich setze weiterhin auf Nick Drakes erstes Album. Er war Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre seiner Zeit weit voraus. Ich glaube, ich habe zum ersten Mal durch den Film „Garden State“ von ihm erfahren – und war davon überzeugt, dass es sich um einen zeitgenössischen Songschreiber handeln müsse. Er war einfach so lebensklug, und seine Melodien sind universell.
24
FRITZ KALKBRENNER über
VAN MORRISON – Veedon Fleece (1974)
So vor neun Jahren hatte ich eine regelrechte Van-Morrison-Phase und habe mir seine ganzen Standardplatten zugelegt, also die üblichen Verdächtigen: Astral Weeks, Moondance, St. Dominics Preview und auch eben die. Van ist 1974, mit einer frischen Scheidung im Gepäck, aus den Staaten in seine irische Heimat zurückgekehrt und hat die Platte in ihren Grundzügen in drei Wochen zusammengenagelt. Herausgekommen ist ein kammermusikalisches, geradezu „keltisches“ Album. Van besingt irische Tragödien der alten und neuen Heimat mit voller Inbrunst und in bitterer Schönheit. Im Zentrum steht das fast neunminütige „You Don’t Pull No Punches, But You Don’t Push The River“. Er hatte damals ja echt was übrig für die epochalen Nummer: „Summertime In England“ von 1980 ist um die 15 Minuten lang. Auf der Originalpressung bilden „Come Here My Love“ und „Country Fair“ den ätherischen Schlusspunkt. Ich habe selten einen besseren Umgang mit Stille innerhalb von Songs gehört. Die Musikpresse sah das Ganze damals nicht so, und bedachte Veedon Fleece durch die Bank mit Verrissen sondergleichen. Die argwöhnten ihm wohl noch die Abkehr vom Schrammel-Soul à la Them hin zum Country Rock. Van hat die Ablehnung so sehr aus der Bahn geworfen, dass er für drei Jahre die Beine hochgelegt hat.
25
JOHNNY LLOYD (TRIBES) über
LATE OF THE PIER – Fantasy Black Channel (2008)
Für ein Stück Musik, das ein einzelner Typ (Samuel Dust alias Sam Eastgate – Anm. d. Red.) geschrieben und umgesetzt hat, ist das Album wirklich bemerkenswert. Er nahm alles selbst auf und ließ es dann vom Rest der Band overdubben. Es hat irgendwie eine Stimmung wie The Dark Side Of The Moon – alles ist miteinander verbunden, jeder Track führt nahtlos in den nächsten über. Sam nutzte einfach alle Klangquellen, die ihm zur Verfügung standen und bewegte sich mit diesen Klängen an Orte, die anderen verschlossen bleiben. Die Platte erschien zur gleichen Zeit wie das erste Klaxons-Album Myths Of The Near Future, das damals viel Staub aufwirbelte, aber ich würde Fantasy Black Channel in jedem Fall den Vorzug geben. Es gibt großartige Gitarren-Passagen, aber der Mann ist auch an den Synthesizern ein Genie. Wir spielen das Album im Tourbus nonstop und waren enttäuscht, als wir hörten, dass sich die Band aufgelöst hatte.
26
JARVIS COCKER über
MAGAZINE – Real Life (1978)
Als der Punk seinen Höhepunkt erreichte, war es immer schwierig, überlange Songs mit Synthesizern zu verkaufen. Real Life ist also eine sehr bedeutende Platte ihrer Zeit, wenn man bedenkt, dass sie nach dem Aufkommen von Punk herauskam. Sie demonstrierte, wie es immer noch möglich war, echte Energie mit Intelligenz zu verbinden. Punk etablierte eine Stunde null. Es wurde sehr interessant, denn eigentlich war es nicht erlaubt, Dinge aus der Vergangenheit zu zitieren, auch wenn es im Endeffekt einige getan haben. Also musstest du etwas erfinden, das es so nicht gab, oder dich dorthin trauen, wo nichts mehr an die alte Ordnung erinnert. Magazine waren die große neue Hoffnung, als ihre Single „Shot By Both Sides“ veröffentlicht wurde. Ich erinnere mich aber auch gut daran, wie ihr Album dafür kritisiert wurde, zu viele Synthesizer zu benutzen und die Songs viel zu lang waren. Für manche waren sie die Rückkehr zum Prog Rock. Wenn ich die Songs heute höre, fällt mir allerdings auf, dass sie zwar lang sind, aber nicht ausschweifend. Sie sind sehr strukturiert. Kein Herumgewichse als Selbstzweck. Ich habe sie durch John Peels Radioshow kennengelernt, wie fast jede Band zu der Zeit. Ihren Plattenverkäufen war das wohl nicht dienlich, da ich das Album auf einem Tape mitgeschnitten und leider nie gekauft habe. Ich würde diese Gelegenheit hier und jetzt gerne nutzen, und mich bei Howard Devoto, dem Sänger der Band, zu entschuldigen. Vor zwei oder drei Jahren habe ich ihn mal in einem Bus in London getroffen. Er hat sich neben mich gesetzt und wir haben uns eine Weile unterhalten.
27
CARL BARÂT über
BONNIE „PRINCE“ BILLY – I See A Darkness (1999)
Diese Platte machte mir bewusst, dass man ein Album in die Welt setzen kann, das seine Existenzberechtigung und seine Schönheit allein in sich selbst hat – Musik als Ausdruck der eigenen Person, Musik, die nicht auf die Mädchen auf dem Dancefloor oder anderen Schnickschnack schielt. Hier herrscht eine sehr intime Art von Songwriting. Der Titeltrack sticht natürlich besonders heraus, weil ihn Johnny Cash gecovert und einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt hat. „A Minor Place“ ist ebenfalls überragend. Für meinen Geschmack ist das gesamte Album vielleicht etwas zu kopflastig. Ich kenne keine anderen Aufnahmen von ihm, aber ich spüre, wenn ein Album in sich perfekt ist – so wie etwa If You’re Feeling Sinister von Belle & Sebastian. Ich bin einfach glücklich mit der kleinen Ecke in meinem Kopf, die ich für dieses Album gefunden habe, und habe nicht das Bedürfnis, es als Teil des Mainstream zu sehen. Es ist eine sehr persönliche Platte, deren Intimität es dir erlaubt, eigene Gefühle zu artikulieren. Und in diesem Hinblick ist dieses Album mehr als erfolgreich.
28
ROU REYNOLDS (ENTER SHIKARI) über
ADEQUATE SEVEN – Songs Of Innocence And Of Experience (2002)
Adequate Seven waren die Band, die in mir den Wunsch auslöste, selbst eine Ska-Core-Band ins Leben zu rufen. Und wenn ich noch mehr ihrer Konzerte besucht hätte, wäre das ganze Konzept von Enter Shikari wohl anders ausgefallen. Als Kind lernte ich zuerst Trompete, dann Gitarre – doch als ich mit 14 Jahren Adequate Seven erlebte, gingen meine früheren Vorlieben komplett den Bach runter. Blasinstrumente waren doch viel cooler! Und die Band sang über die Gesellschaft. Adequate Seven waren wütend und ehrlich. Bis zum damaligen Zeitpunkt waren meine Pop-Punk-Einflüsse auf Kapellen beschränkt, die die Schwanz- und Furz-Ästhetik von Blink-182 zu kopieren versuchten. Aber wenn Adequate Seven losschrien: „I refuse to be controlled“ oder „We’ve gotta fight to stay alive“, dann war das keine Pseudo-Revolution à la Linkin Park. Das war alles greifbar und echt. Das Album hat die frühen Tage von Enter Shikari erheblich beeinflusst – nicht in dem Ausmaß, dass wir selbst eine Ska-Punk-Band wurden, aber ihre Frustrationen und Melodien, ihre Energie und ihr Groove waren unschlagbar. Auch wenn ich vielleicht aus einer anderen musikalischen Ecke komme, so tue ich doch mein Bestes, um diese Fackel weiterzutragen, die Adequate Seven und andere sozial engagierte Bands vor mir trugen. Ich empfinde das als Ehre. Adequate Seven liefern mit diesem Album jedenfalls mit die beste politische Party-Musik, die man sich vorstellen kann.
29
RAF RUNDELL (THE 2 BEARS) über
THE STEPKIDS – The Stepkids (2011)
Mein Freund James Endeacott, mit dem ich das Label 1965 Records betrieb, brachte mich auf dieses Album. Er wusste, dass ich darauf abfahren würde: psychedelisch, aber doch soulful, ein bisschen funky und ein bisschen abgefahren. Jeff Gitelman, eins der drei Bandmitglieder, war einmal der Tour-Gitarrist bei Alicia Keys, und folglich ist die Musik gut am Kochen. Viele Leute machen Musik, die zu kompliziert ist, um sie wirklich genießen zu können. Dieses Album ist komplex und musikalisch fordernd, aber trotzdem ein Hörgenuss. Auf einigen der Fotos, die ich von ihnen gesehen habe, tragen sie weiße Klamotten, lassen sich aber psychedelische Farben drauf projizieren. Man denkt unwillkürlich an abgedrehte Psych- oder Jazz-Platten, aber auch an Sly & The Family Stone oder Rotary Connection. Es erinnert mich an die Zeit, in der ich mir als Teenager die Birne zuknallte und Jimi Hendrix hörte. Leute wie MGMT, die angeblich so abgefahren sein sollen, sind im Vergleich zu ihnen jedenfalls wahre Waisenkinder. MGMT haben vielleicht ein paar Ideen, werfen ein paar Drogen ein und gehen dann zu Produzent Dave Friedmann, um sich ein Album machen zu lassen. Vielleicht bin ich ja etwas zu gemein und zynisch, aber bei diesen Jungs hier hat man den Eindruck, als könnten sie tagelang ununterbrochen durchspielen.
30
DANIEL BLUMBERG (YUCK) über
SILVER JEWS – Starlite Walker (1994)
Ihr erstes Album ist unglaublich. Heute sprechen nicht mehr allzu viele Leute über die Silver Jews, und wenn, dann eher über das dritte Album American Water. Aber das Debüt ist und bleibt faszinierend. David Berman ist als Lyriker unschlagbar – wobei ich gewöhnlich Songtexte nicht mal bewusst wahrnehme. Starlite Walker ist ein textliches Meisterwerk. Und es klingt obendrein auch absolut cool – kein Wunder: Berman nahm es immerhin zusammen mit Stephen Malkmus auf.
31
ORLANDO WEEKS (THE MACCABEES) über
THE JAGS – Evening Standards (1980)
Nick Watkins, ihr Frontmann, gab mir nicht nur meinen ersten Gitarrenverstärker, sondern auch das Selbstvertrauen, selbst Songs zu schreiben. Unter dem Namen Virginia Plain tritt er nach wie vor auf und weiß noch immer, was Sache ist. Der Song „Back Of My Hand“ war 1979 ein Hit, während das Album, das sich nach frühem Elvis Costello anfühlt, ein Jahr später erschien. Ich hörte es zum ersten Mal in der BBC-Serie „Never Mind The Buzzcocks“, bei der Nick in der Jury saß. Es muss das einzige Mal gewesen sein, dass Mark Lamarr, der die Sendung damals noch moderierte, nicht alle Gäste vor den Kopf stieß.
TOCOTRONIC über „Weiterführende Musik“
„Es ist einfach Rockmusik“, sangen sie vor siebzehn Jahren. Aber es ist ja so viel mehr. Hier stellen die vier Tocotronischen Spezialitäten aus ihrer Plattensammlung vor.
32
TERRY HALL & MUSHTAQ – The Hour Of Two Lights (2003)
DIRK von LOWTZOW: Meine Wahl musste auf Terry Hall & Mushtaqs The Hour Of Two Lights fallen, denn dieses Album läuft bei mir gewissermaßen ununterbrochen, seitdem ich es 2003 im Münchener Plattenladen „Optimal“ erstanden habe. Ich bin seit meiner Jugend ein großer Fan von Terry Hall und seiner Kunst. Ich liebe seine Art zu singen, seinen leicht näselnden britischen Akzent, den manierierten Tonfall. Das leichte Wehklagen in seiner Stimme gab noch den polterndsten Polkas der Specials einen leicht melancholischen Unterton. Gänzlich perfektioniert hat er seinen Singsang mit seiner Band Fun Boy Three und, noch etwas später, bei den wunderbaren The Colourfield. Terry Hall ist einfach so schön, es ist zum Weinen. Zuletzt wurde dies sichtbar bei seinem Auftritt beim Specials-Reunion-Konzert in Glastonbury, 2007, gemeinsam mit der spitzenmäßigen Lily Allen. Die Körperhaltung! Der Anzug! Der Gesichtsausdruck! Doch zu The Hour Of Two Lights: Auf diesem sehr politischen, im Schatten der zwei Türme entstandenen, „Weltmusik“-Album, erschienen auf dem fantastischen Label Honest Jon’s, geleitet von Mark Ainley, gestaltet von dem Göttergrafiker Will Bankhead, kooperiert er nicht nur mit dem englischen Produzenten Mushtaq (Fun-Da-Mental), sondern auch mit dem algerischen Rapper Abdul Latif Assaly, einem zwölfjährigen libanesischen Mädchen, einem Roma-Orchester, einem hebräisch singenden Chor und nicht zuletzt mit Damon Albarn. Es entsteht ein ungemein suggestiver, tanzbarer, trikontinentaler Sound, in dem sich Terry Halls Stimme aufs Bescheidenste und Entzückendste entfalten kann. Er geht ganz auf in der Rolle eines Engländers, der die Wüste liebt, so wie vor ihm Hester Stanhope (sagenumwobene britische Abenteurerin, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Reich in den Drusenbergen des Libanon schuf – Anm. d. Red.), Gordon von Khartum (britischer Militäroffizier, der im 19. Jahrhundert zum Generalgouverneur des türkisch-ägyptischen Sudans aufstieg – Anm. d. Red.) oder Lawrence von Arabien (britischer Archäologe und Schlüsselfigur der Arabischen Revolte 1916-1918 – Anm. d. Red.). Er hat die sieben Säulen der Weisheit gesehen, in der Stunde des Zwielichts.
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YANKA DYAGILEVA – Ne polozheno! (1988)
JAN MÜLLER: Yankas Musik ist ein Beispiel für die Universalität der Sprache der Musik. Obwohl man als nicht russisch sprechender Mensch ihre Texte nicht verstehen kann, begreift man doch jedes Wort, jedes tiefe Gefühl, welches ihnen innewohnt. Inspiriert vom legendären russischen Songwriter Aleksandr Bashlachev begann Yanka eigene Stücke zu schreiben und ab 1985 öffentlich aufzutreten. 1987 lernte sie Yegor Letov von der sibirischen Punkband Grazhdanskaya Oborona kennen. Mit ihm nahm sie diverse Alben (entweder nur mit Akustikgitarre oder elektrisch verstärkt mit Band) auf. Ihr erstes, das in 1988 in Omsk aufgenommene Ne polozheno!, was soviel heißt wie „Nicht erlaubt!“ oder „Nicht ordnungsgemäß!“ ist eines ihrer schönsten. Am Abend des 9. Mai im Jahr 1991 verließ Yanka ihre Datscha bei Nowosibirsk. Ihr Körper wurde am 17. Mai in einem Fluss gefunden. Es wurde nie endgültig festgestellt, ob es sich um einen Unfall oder Suizid handelte.
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IVOR CUTLER – Velvet Donkey (1975)
ARNE ZANK: Das erste Lied von Ivor Cutler, das ich hörte, war „Good Morning“, da heißt es: „Good morning! How are you? Shut up!“ – als bekennender Morgenidiot war ich sofort verzaubert von dem schottischen Exzentriker, ehemaligen Summerhill-Lehrer, Poeten, Humoristen und notorischen Harmonium-Spieler. Nicht, dass ich mich besonders gut auskennen würde mit seinem vielseitigen Werk, aber allein die beiden Platten Dandruff und Velvet Donkey, die nach seiner Zusammenarbeit mit dem großartigen Robert Wyatt erschienen sind, habe ich Hunderte Male gehört und mich an seinem wohlartikulierten schottischen Akzent erfreut. Er spielte auch bei dem Beatles-Film „Magical Mystery Tour“ mit, wurde von John Peel verehrt und flog im Zweiten Weltkrieg aus der RAF aufgrund von „dreaminess“. Das sollte reichen als Empfehlung. Die Platten kann man auch getrost Kindern schenken und sie ihnen dann wieder wegnehmen, um sie selber zu hören. Vielleicht.
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WEST COAST POP ART EXPERIMENTAL BAND – Part One (1967)
RICK MCPHAIL: Keine Ahnung, ob das hier ein Geheimtipp ist, aber ich habe diese Platte neulich entdeckt. Das sehr schöne psychedelische Cover und der angeberische Bandname haben mich neugierig gemacht und ich wurde nicht enttäuscht. Es gibt nur wenige psychedelische Platten aus der Zeit, die so abwechslungsreich sind. Der Bogen spannt von ruhigen Nummern („Shifting Sands“ „I Won’t Hurt You“, „Will You Walk With Me“) à la The Zombies oder The Velvet Underground bis zu schrägen Stücken („1906“, „Help, I’m A Rock“), die was von The Monks haben oder sogar große Popnummern wie The Byrds („Transparent Day“, „Here’s Where You Belong“).
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SERGE PIZZORNO (KASABIAN) über
MALACHAI – Ugly Side Of Love (2009)
Das Album erschien erst vor einigen Jahren – und die gesamte Produktion ist unglaublich, vor allem aber ihr Sänger Gee, der in der Eric-Burdon-Tradition steht und seine Sachen richtig herausschreit, wirklich soulful. Es ist eigentlich die psychedelische Platte einer Garagen-Rock-Band, wurde aber wie ein HipHop-Album produziert. Ich hörte „Black Bird“ im Radio und besorgte mir gleich das Album. Es ist eine dronige Garagen-Psych-Nummer, während „Snowflake“ einen genialen 70s-Hook hat. Ich höre DJ Shadow in dieser Musik, aber ebenso die Pretty Things. Kaum zu glauben, dass das Album so dermaßen unterging. Die Band stammt aus Bristol, und ich kann nur hoffen, dass wir ein weiteres Album von ihnen zu hören bekommen.
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TOM MEIGHAN (KASABIAN) über
KEVIN ROWLAND – My Beauty (1999)
Kevin ist natürlich der Frontmann der Dexys Midnight Runners (jetzt nur noch Dexys – Anm. d. Red.). Alan McGee nahm ihn unter Vertrag, brachte My Beauty auf Creation Records heraus – und alle fielen sie über das Album her. Es sind nur Coverversionen darauf, aber ich liebe sie alle. Man kann das Album heute nirgendwo mehr auftreiben. Es hat wahrscheinlich nur 20 Stücke verkauft und war der komplette Flop, auch wenn Rowland auf dem Cover einen auf Transvestit macht. „I Can’t Tell The Bottom From The Top“, das ich erstmals auf einer Compilation hörte, war so brillant, dass ich mir gleich das Album kaufte. Rowland hat eine wunderbare Stimme und singt diese klassische Diva-Ballade, die ich mir sonst nie angehört hätte. Natürlich liebte ich immer die Dexys, aber diese Platte war anders. Auch sein Gig beim Reading Festival 1999 war legendär: Er kam in einem Kleid auf die Bühne und sang eine Whitney-Houston-Ballade – und wurde natürlich mit Flaschen beworfen. Aber der Mann ist nun mal Kevin fucking Rowland!
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GARY JARMAN (THE CRIBS) über
COMET GAIN – Réalistes (2002)
Es wird mir ein ewiges Rätsel bleiben, warum dieses Album nicht Millionen verkauft und David Feck & Co. zu kompletten Rockstar-Arschlöchern transformiert hat. Für mich ist es nicht nur das größte Pop-Album aller Zeiten, sondern auch emotional tief schürfender und wundervoller als alles, was sensible Männer mit Bärten je kreieren werden. Als es 2002 veröffentlicht wurde, hörte ich es ständig auf meinem Walkman, wenn ich morgens mit dem Bus zum College fuhr. In den grauen Regenwolken formten sich plötzlich Romanze und Glanz, Nostalgie und Träumerei. Ich war fest davon überzeugt, dass diese Band Riesenerfolg haben würde – Northern-Soul-Boys (und Girls) in verschlissenen Anzügen/Kleidern, die eine wundervolle Rickenbacker ebenso spielten wie gezielte Noise-Splitter, gekrönt von Davids Beat-Poesie. Wie konnte das nur mein kleines Geheimnis bleiben? Wie alle große Kunst hatten auch Comet Gain eine selbstzerstörerische Ader. Sie gingen ungern auf Tour (die Cribs luden sie mehrfach ein!), ständige Wechsel im Line-up und ihre Introvertiertheit trugen dazu bei, dass die Band nur von Insidern geschätzt wurde, die diese Nadel im Heuhaufen fanden. Sie haben im Laufe der vergangenen Jahre nicht nur uns beeinflusst, sondern auch Gossip, The Long Blondes und diverse New Yorker Bands wie Crystal Stilts und Cause Co-Motion. Jeder, der sie entdeckt, verliebt sich sofort in sie. Das Album hat nicht nur großartige Pop-Hooks, sondern auch die seltene Eigenschaft, den Hörer aus der grauen Monotonie des Alltags herauszureißen.
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MILES KANE über
NIC ARMSTRONG & THE THIEVES – The Greatest White Liar (2005)
Man möchte schwören, dass die Sixties auf dieser Retro-Perle noch immer weiterleben. Als ich mit einer Band namens The Little Flames meine ersten Gehversuche machte, spielten wir mal in Nottingham. Dieser Typ Nic kam zu dem Gig, man lernte einander kennen – und er sagte so was wie: „Ich mache richtige Musik.“ Sein Album, das er zusammen mit Liam Watson (Toningenieur und Mixer von Elephant der White Stripes – Anm. d. Red.) aufgenommen hatte, war gerade erschienen. Ich kaufte es mir – und hörte großartige Melodien wie „Down Home Girl“ und „Natural Flair“. Es war klassischer Sixties-Sound, aber absolut cool präsentiert. Ich hörte das Album so oft, dass ich mir eines Tages dachte: „Scheiße, solche Melodien möchte ich auch schreiben können!“ Ich will nach wie vor Platten machen, die moderner klingen als die von Nic, weil man im Radio gespielt werden möchte etc., aber es sind diese Platten aus deiner Jugend, die deine Mutter immer spielte und die einfach in deinem Kopf hängen blieben – ob es nun die Beatles oder Motown oder Bowie war. Genau diesen Sound höre ich hier auch. Warum er nie groß rauskam? Das weiß nur der liebe Gott.
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JONATHAN PIERCE (THE DRUMS) über
BLUEBOY – Unisex (1994)
Das Album erschien 1994 auf Sarah Records. Keith Girdler, der Sänger der Band, starb 2007 an Krebs. Ihre Songs sind ein Füllhorn wundervoller Momente, die dich unmittelbar treffen. In einem Song namens „So Catch Him“ heißt es: „Do you care when I cut my hair? ‚Cos I wanted you to.“ Die Idee, dass sich ein erwachsener Mann die Haare schneidet, weil er bemerkt und positiv auffallen möchte, ist einfach so simpel und süß – und die Art und Weise, wie Girdler diese Passage singt, bricht einem das Herz. Ich erinnere mich, dass ich den Song zum ersten Mal hörte, als ich über die verschneite Brooklyn Bridge ging – es war einfach ein surrealer Moment.
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KURT VILE über
SWIRLIES – They Spent Their Wild Youthful Days In The Glittering World Of The Salons (1996)
Ich war noch ein Teenager, als ich auf diese Platte stieß. Ich hatte Freunde, die wie die Swirlies in Boston lebten. Sie waren damals schon eine angesagte Indie-Band in der College-Szene und hatten einen Deal bei Taang! Records, die unter anderem frühe Sachen der legendären Lemonheads veröffentlichten. Die Swirlies waren aber definitiv eine 90s-Band: Sie waren deutlich von My Bloody Valentine beeinflusst, waren aber etwas rauer, experimenteller und amerikanischer; sie benutzten Synthesizer, arbeiteten aber auch mit schrägen Field Recordings. Sie hatten den Noise von Sonic Youth, standen mit einem Fuß aber auch im Shoegaze-Lager. Das Album verfügt über unverkennbare Pop-Sensibilitäten, gleichzeitig aber auch über eine gesunde Härte. Die Swirlies hatten einen Sänger und eine Sängerin, die jeweils eine angenehm beruhigende Ausstrahlung hatten, aber bestimmt keine Sensibelchen waren. Diese Band war einfach eine absolut richtige Mischung.
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ST VINCENT über
SELDA – Selda (1976)
Ich hörte dieses Album erst vor Kurzem zum ersten Mal – Cate Le Bon, mit der ich toure, spielte es mir vor. Es hat die coolsten Fuzz-Sounds, die coolsten Riffs, eine mächtige Rhythmusgruppe … und Selda singt sich hier echt den Arsch ab. Eine Kreuzung aus osteuropäischer Musik und westlichem Rock. Irgendwie erinnert es mich an Led Zeppelin, aber Selda singt natürlich Türkisch. Angeblich sind all ihre anderen Platten nicht so toll, aber diese hier ist eine wahre Entdeckung.
MAURICE SUMMEN über Underground-Musik aus Deutschland:
Der Sänger der Türen und Chef des Staatsakt-Labels empfiehlt kluge, deutschsprachige Sonderlinge.
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DIE GOLDENEN ZITRONEN – Economy Class (1996)
Enthält mit „0:30 Uhr, gleiches Ambiente“ das vielleicht erste Stück über Hipster (im Mark Greif’schen Sinne) in deutscher Sprache – Hipster wider Willen! Unvergessenes Textfragment: „Hast Du den neuen Quentin Tarantino (mit falscher Aussprache – Anm.) schon gesehen?“ Die Goldies damals noch mit Hans Platzgumer am lärmenden Instrumentarium aus Atonalien: Noise-Punk spielend, Free-Jazz meinend. Von hier an war „an die eigene Nase fassen“ wieder unfassbar hip!
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F.S.K. – Bei Alfred (1995)
Die Tatsache, dass in diesen Best-of-Listen meist keine Best-of-Platten stehen, ist nicht nur widersprüchlich, sondern vor allem einfach sehr unpraktisch. Auf dieser Doppel-CD versammelt sich eine Quasi-Komplett-Liedsammlung der wohl eigenständigsten Band aus Täuschland, erschienen auf Alfred Hilsbergs legendärem Label Zick Zack. Hier gibt es Postpunk, Volksmusik, situationistischen No Wave und Velvet Coco Chanel von Susan Sontag aufs Butterbrot geschmiert: „I Wish I Could ‚Sprechen Sie Deutsch?'“.
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Knarf Rellöm ISM – Fehler Is King (1999)
Sensationelles Trio mit sensationeller Liedsammlung: Knarf Rellöm in Akkord und Wort, Heinrich Köbberling an den Drums und Viktor Marek an Drumcomputern, Samplern und Synthesizern (produziert von Tobias Levin). Die Hamburger Schule im Abschied von Rock und seinen Spielarten hin zu dem, was später Elektro werden sollte. Ein Jahr zuvor schon hatten die Goldies mit Deadschool Hamburg (Give Me A Vollzeitarbeit) an dieselbe Tür geklopft. Mit tröstlichen Zeilen wie „Das war kein Sozialismus, das war Spießerkram“ im Kopf spielte die Elektronik fortan in den Nächten des Aufbegehrens die erste Geige. „Spex“ gekündigt, „De:Bug“ abonniert.
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Reinhard Lakomy – Das geheime Leben (1982)
Eines der ersten elektronischen Alben der DDR, das Jahr war 1982, der Künstler der bekannte Traumzauberbaum-Schöpfer Lakomy. Sensationelles Geplocker mit tollen Prä-Rave-Momenten! Wer esoterischer Innerlichkeit nicht abgeneigt ist, schon mal ein iGing geworfen und seine Freak-Souvenirs noch nicht ganz auf dem Flohmarkt zu Geld gemacht hat, liegt hier goldrichtig. Lässt sich problemlos zwischen Animal Collective und Flaming Lips einsortieren.
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JaKönigJa – Die Seilschaft der Verflixten (2008)
Ich hätte genauso gut das Vorgängeralbum Ebba wählen können, aber ich finde Die Seilschaft der Verflixten einfach einen sensationell guten Albumtitel. Das Lebens-, Liebes- und Kunstpaar Ebba Durstwitz und Jakob Siebels hier mal wieder unterwegs in Sache Seelenheil. Wer an Robert Wyatt und die Märchen der Gebrüder Grimm glaubt, wer Heidegger und Thomas Mann ebenso viel Bedeutung schenkt wie Oregano und Thymian, ja und wer in Jorge Luis Borges Bibliothek zu Babylon weiß, wo wirklich jedes Buch steht, der sollte sich dieser Seilschaft unbedingt anschließen.
RHYS WEBB (THE HORRORS) über Psychedelia
Der Bassist der shoegazenden Postpunks nimmt uns mit auf eine Acid-geschwängerte Odyssee.
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SAM GOPAL – Escalator (1969)
Der ganz wunderbare Sam Gopal veröffentlichte nur ein einziges Album, und zwar 1969 auf dem winzigen Saga-Label. Der Legende nach wurde es an einem einzigen Abend mit Hilfe von dichten Haschisch-Schwaden und Mushroom-Fantasien eingespielt. Und genau so klingt es auch. Die Fuzz-Gitarre, von Prä-Hawkwind-Mitglied Lemmy gespielt, windet sich atemberaubend durch Tabla-lastige Grooves und erzeugt wahrhaft hypnotische Effekte. Acid Folk meets Heavy Psychedelic Rock – definitiv eine Platte „to turn off your mind, relax and float downstream“, um John Lennon zu zitieren. Die Band spielte in all den legendären Londoner Untergrund-Tempeln. Das Album verkaufte trotzdem miserabel – und wird erst heute als Klassiker des Genres wiederentdeckt.
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GROUP 1850 – Agemo’s Trip To Mother Earth (1968)
Hollands Antwort auf Pink Floyd nahm in der zweiten Hälfte der Sechziger einige abgefahrene Platten auf. Die Band zog im Studio alle psychedelischen Register, benutzte Phaser bis zum Umfallen und produzierte schweren Acid-Rock, der Dr. Hofmanns lysergischer Säure ein Denkmal setzte. „I Put A Hand On Your Shoulder“ ist ein Trip in sich selbst – knapp 15 Minuten wundervollen Wahnsinns. Mein Herz wird immer für die britische Psychedelia schlagen, aber die Holländer folgen gleich auf Platz zwei. Sie demonstrieren einfach eine Lässigkeit und eine gesunde Punk-Attitüde, die vielleicht typisch ist für ein Land, wo man den guten psychedelischen Stoff an jeder Ecke kaufen kann. Agemo’s Trip To Mother Earth gibt dem Hörer das Gefühl, sich besser auf diesem Trip gut zu amüsieren – weil es vielleicht der letzte gewesen sein könnte.
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DAMON – Song Of A Gypsy (1969)
Damons Debütalbum erfüllt alle Kriterien, wenn man sich auf die Suche nach dem „verlorenen psychedelischen Meisterwerk“ begibt. Es wurde auf einem kleinen Indie-Label veröffentlicht, erschien in ledernem Klappcover und zählt zu den gefragtesten amerikanischen Vinyl-Artefakten aus dieser Periode, an die 1 000 Euro wird man für ein Original rausrücken müssen. Die Musik ist ein atemberaubender Mix aus Fuzz und Acid, dazu Damons unwirklicher Gesang, der schwerelos über mächtigen perkussiven Grooves schwebt. Bemerkenswert auch die Gitarre von Charlie Carey, der erst kurz vor den Aufnahmen zur Band stieß und die Vorgabe mit auf den Weg bekam, „to just feel it“ und alles zu spielen, was ihm gerade einfiel. Das Highlight für mich ist „Don’t You Feel Me“, das beeindruckend dokumentiert, wie diese großartige Band funktionierte.
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DARK – Round The Edges (1972)
Darks legendäre LP aus dem Jahr 1972 mag nicht durchgängig psychedelisch sein, doch der Einfluss des Acids ist immer präsent. Proto-Hard-Rock at its best, der phasenweise auch mal einen Abstecher in Progressive-Gefilde macht, aber nie in selbstgefälliges Gniedeln ausartet. Das Album lebt von der fantastischen Arbeit der beiden Gitarristen Steve Giles und Martin Weaver. Ursprünglich wurden nur 50 Exemplare für den Eigenbedarf angepresst, doch inzwischen ist das Album auf Bootlegs und Re-Issues problemlos erhältlich. Man fange mit „Zero Time“ an und entdecke, warum Round The Edges ein Meilenstein dieses Genres ist.
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LAZY SMOKE – Corridor Of Faces (1969)
Die Gruppe mit dem cleveren Namen wurde 1967 in Massachusetts gegründet. Ihre einzige LP, auf dem Onyx-Label veröffentlicht, präsentiert eine Band, die wunderbaren psychedelischen Pop schreiben konnte, der von den experimentelleren Sounds der Fab Four nachhaltig beeinflusst wurde. Manchmal glaubt man tatsächlich, einen Lennon-Outtake zu hören, der’s nicht auf Revolver geschafft hat. Verträumte Melodien schweben über exzellente psychedelische Gitarren und führen uns durch die optimistische, euphorische Welt der Love-Generation – eine weitere vergessene Gruppe, die leider Gottes kaum jemand kennt.
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KONSTANTIN GROPPER (GET WELL SOON) über
FLOTATION TOY WARNING – Bluffer’s Guide To The Flight Deck (2004)
Eine Band, die von sich behauptet, aus Polarforschern und Historikern des 19. Jahrhunderts zu bestehen, ein Album, das klingt wie ein akustisches Kuriositätenkabinett, Reime wie „I love unicorns – and I loved you once“, eine Stimme, die man unter Tausenden sofort wiedererkennen würde und ein barockes, sehr eigenes, mutiges und dennoch schäumend-wohltuendes Klangbad. Diese Band macht eigentlich alles richtig, nein, grandios sogar! FTW hätten sich einen Platz im Pantheon neben Mercury Rev und Grandaddy mehr als verdient. Und angeblich soll auch bald ein zweites Album kommen. Endlich.
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RONNIE VANNUCCI (THE KILLERS) über
BEN FOLDS FIVE – Whatever And Ever Amen (1997)
Eins der ersten Konzerte, das ich besuchte, so mit 18 Jahren, war von den Ben Folds Five. Irgendwie bin ich ihnen immer treu geblieben. Ihr Material, nicht zuletzt seine textliche Seite, berührt mich heute sogar mehr als damals. Als Teenager fehlte mir einfach die Erfahrung, um es angemessen zu verarbeiten. Etwa ein Song wie „Smoke“, der von jemandem handelt, der sich weiterentwickeln möchte, aber von äußeren Kräften daran gehindert wird. Es gibt eine Menge großartiger Songs über Trennungen, gescheiterte Ehen und das Gefühl, von jemandem abserviert zu werden. Ich bekam den ersten Eindruck des Albums in der MTV-Sendung „120 Minutes“. „Battle Of Who Could Care Less“, die Single, war bereits erschienen, ein paar Monate später folgte dann die Single „Brick“. Mein erster Eindruck war also dieses seltsame Schwarz-weiß-Video, und es haute mich einfach um. Drei Typen – Piano, Fuzz-Bass und Drums. Der Gesang ist nicht perfekt, sondern mit einigen Ecken und Kanten. Aber es sind großartige Popsongs. Das ganze Album nahm mich umgehend gefangen. Ich glaube, ich habe es drei Jahre lang nonstop gehört.
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DAVID BREWIS (FIELD MUSIC) über
GASTR DEL SOL – Camoufleur (1998)
Es war ihr zugänglichstes und kommerziell erfolgreichstes Album, aber für eine Band, die sich in den Ambient-Ausläufern des Chicagounderground zu Hause fühlte, ist das natürlich nur ein relativer Maßstab. Das Kern-Duo mit David Grubbs und Jim O’Rourke – deren Back-Katalog man ebenfalls checken sollte – trennte sich gleich nach diesem Album, aber ungeachtet dieser Differenzen ist Camoufleur eines der raren Alben, auf denen sich Experimentierfreude und Melodienseligkeit wundervoll die Waage halten. Es ist jedenfalls das einzige Album, dem man das Etikett „Postrock“ verpassen könnte, das mich zu Tränen rührt. Wobei es hier nicht um eine „Spür meinen Schmerz“-Authentizität geht, da die Texte ohnehin völlig kryptisch sind. Die Songs ähneln Rätseln, und – wie immer bei wahrer Poesie – geht es nicht darum, im Nachhinein nun alle Fragen beantworten zu können. Es gibt jedenfalls nicht allzu viele Alben, auf denen man den Sound einer leiernden Tape-Maschine neben ekstatischem Jazz und barockem Pop hört. Selbst ein französisches Kind, das mit Feuerwerk spielt, findet auf dieser Platte seinen Platz. Neben The Soft Bulletin von den Flaming Lips und Loveless von My Bloody Valentine ist Camoufleur für mich das wichtigste Album der Neunziger.
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BJÖRK über
ASSOCIATES – Sulk (1982)
Meine Liebe zu den Associates begann im Alter von 15 Jahren. Es gab nur einen Plattenladen in Reykjavík, der alternative Musik verkaufte, und ich arbeitete dort mit ein paar Freunden. Wir haben die Platten, dir wir mochten, immer und immer wieder gehört. Ich mochte Fourth Drawer Down und The Affectionate Punch, aber Sulk hat es mir wirklich angetan. Ich war in meiner Selbstfindungsphase als Sängerin und bewunderte die Art, wie Billy Mackenzie seine Stimme einsetzte. Er war ein unglaublich spontaner Sänger, rau und gefährlich. Gleichzeitig klang er aber immer so, als sei er mit seiner Umgebung, der Natur, verbunden. Ich kannte Leute, die ihn als weißen Soulsänger beschrieben, ich fand aber immer, dass seine Stimme irgendwie heidnisch und urtümlich klingt. Und das ist für mich sehr viel interessanter. Es gibt Hunderte Sänger, deren Stimme soulig klingt, aber es gibt nicht viele, die klingen, als hätten sie Zigeuner-Wurzeln. „Party Fears Two“ war mir etwas zu glatt und überproduziert, aber ich habe ihn letztens noch einmal gehört und finde, der Song ist gut gealtert. Mir war nie klar, dass „Gloomy Sunday“ kein Song von den Associates war, bis ich 1997 zu einem Benefiz-Konzert mit Joni Mitchell nach Kalifornien eingeladen wurde (Das Original stammt aus dem Jahr 1933, geschrieben vom ungarischen Pianisten Rezsö Seress – Anm. d. Red.). Ich kam zum Soundcheck und konnte es gar nicht fassen, dass das Orchester den Song ohne diesen unverschämten Tonartwechsel in der Mitte spielt. Ich versuchte zu protestieren, sie würden den besten Teil des Songs weglassen. Bis mit dämmerte, dass die Associates das Lied offensichtlich gecovert haben. Eine Enttäuschung, denn das Original ist nicht halb so herausfordernd.
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TOM DOUGALL (TOY) über
BROADCAST – Haha Sound (2003)
Haha Sound dürfte eine ziemlich obskure Broadcast-Veröffentlichung sein, aber die Sounds auf diesem Album sind fantastisch – es ist eine perfekt produzierte Platte. Ich stieß darauf, als meine ältere Schwester mir vor einigen Jahren diverse Broadcast-Platten vorspielte – und unsere ganze Band sofort Feuer und Flamme war. Es war eine niederschmetternde Nachricht, im vorigen Jahr von Trish Keenans Tod zu erfahren. Broadcast sind für mich eine der besten Bands der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre. Wir haben Tender Buttons und die Compilation The Future Crayon regelmäßig gehört, aber Haha Sounds haben wir erst neulich wieder entdeckt. Das Album ist etwas intensiver und schroffer als ihre anderen Veröffentlichungen.
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BRITTANY HOWARD (ALABAMA SHAKES) über
FAMOUS L RENFROE – Children (1969)
Nur wenige Leute scheinen zu wissen, was aus Famous L Renfroe wurde – oder woher er überhaupt kam. Es ist sein einziges Album, das er, mit Ausnahme der Drums, komplett im Alleingang einspielte. Es war eklektische Gospelmusik, aber die Songs sind alles andere als traditionell. Bruce Watson von Fat Possum klopfte an alle nur erdenklichen Türen, um Renfroe aufzutreiben, aber da er auf kein Lebenszeichen stieß, entschloss er sich, das Album 2008 erneut zu veröffentlichen. Er legte das Geld aus den Verkäufen auf einem Sperrkonto an, falls sich einer seiner Angehörigen rühren sollte, aber bislang hat sich niemand gemeldet. Wir haben hier also eine verschollene Platte, an der niemand die Rechte beansprucht. Das Album ist alles andere als perfekt, aber gerade das macht es so cool. Renfroe fand offensichtlich niemanden, mit dem er Musik machen konnte, also setzte er sich in sein Zimmer und nahm allein diese wundervolle Musik auf. Man spürt seine Entschlossenheit, um jeden Preis etwas selbst zu kreieren – und diese Einstellung macht Children zu einer der beeindruckendsten Platten, die ich je gehört habe.
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Jamie xx (THE xx) über
JACKIE MCLEAN AND MICHAEL CARVIN – Antiquity (1974)
Ich habe etwas ausgesucht, was ich gerade häufiger höre – es hat sich einfach in mein Leben geschlichen. Es ist ein Jazz-Album aus den frühen Siebzigern, ein ziemlich innovatives, es hat Rhythmen, die noch immer bedenkenlos in Tanzclubs gespielt werden könnten. Ich selbst habe es erst entdeckt, als Four Tet es in einem DJ-Set aufgelegt haben und war erstaunt – erstaunt darüber, dass es nicht mehr Menschen kannten. Ich würde es als eine Art von experimentellem Jazz beschreiben. Ich weiß nicht viel darüber, und ich denke, es liegt reichlich außerhalb jedes Radarbereichs für cooles Zeug. Es gibt jede Menge Percussion und Platz darin und eine Menge verrückter afrikanischer Gesänge. Dann wären da noch ein paar großartige, gewaltige Drum-Riffs, die sich anhören wie UK-Garage-Samples. Eine wirklich aufregende Platte. Mein Favorit ist der Track „De I Comahlee Ah“, bin mir aber nicht sicher, wie sich das ausspricht.
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DJ PHONO (DEICHKIND) über
MARK HOLLIS – Mark Hollis (1998)
Mark Hollis hat sein bis dato einziges Solo-Album im Liegen aufgenommen. Ob dieser Umstand oder sein phänomenales Talent diese unglaubliche Platte hervorgebracht hat, vermag ich nicht zu beurteilen, allerdings löst das Hören dieser Musik im Liegen bei mir eine körperliche Erfahrung aus. Angeblich wird Mark nie wieder Musik aufnehmen. Er hat alles gesagt. Danke!
62
JAMES ALLAN (GLASVEGAS) über
NELLIE MCKAY – Get Away From Me (2004)
Zu dem Zeitpunkt, als ich mir konkret Gedanken machte, in einer Band zu spielen, sah ich sie in der TV-Show von Jools Holland. Ihre Stimme ließ alle verstummen, nur sie am Piano … Ich kaufte mir umgehend ihr Album. Es war Rebellenmusik im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatte einfach ein natürliches Charisma und ein ausgeprägtes Selbstvertrauen. Stilistisch deckt sie durchaus unterschiedliche Stile ab: Manchmal rappt sie, während andere Songs ein schräges Fifties-Feeling haben. Aber immer hat sie etwas zu sagen. Aus dem gleichen Grund liebe ich auch Musiker wie Echo & The Bunnymen und Buddy Holly – auf ihre Art alles mutige Künstler, die nur sich selbst ausdrücken wollen. Ich weiß nicht, ob das auch der Grund ist, warum sie so schnell wieder untertauchte. Ich weiß, dass sie darauf bestand, ihr Debüt als Doppelalbum zu veröffentlichen. Bei ihrem Label war man davon natürlich nicht begeistert, also marschierte sie mit einer Powerpoint-Präsentation ins Columbia-Office – und zeigte dort ein Foto, auf dem sie ihrem Produzenten einen Revolver an den Kopf hält. Und sie bekam ihr Doppelalbum! Sie ist eine sehr artikulierte Feministin, die sich weigert, das Spiel mitzuspielen.
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JOHN HASSALL (THE LIBERTINES) über
IDLE RACE – Idle Race (1969)
Eine Band aus den Sechzigern, in der Jeff Lynne mitspielte – dieser unglaubliche Produzent und Songschreiber, der später bei The Move einstieg und das Electric Light Orchestra gründete. Ich mag diese Art von psychedelischem Pop, ich mochte auch The Move – und kam über diesen Umweg zu Idle Race. Es ist dieser bekannte Rock-Stammbaum-Effekt: Man schaut sich die Verästelungen und Zweige an und entdeckt immer neue Bands, die einem gefallen. Bei Idle Race sang Lynne jedenfalls über Cowboys und Indianer und die Beatles – er war bekanntermaßen ein riesiger Beatles-Fan. Es war aber nie cool, ELO zu mögen – ich beiße mir immer auf die Lippe, bevor ich das zugeben würde.
Rod González über südamerikanischen 60s-Beat
Mit seiner neuen Band ¡Más Shake! führt uns der deutsch-chilenische Bassist von Die Ärzte zu den Wurzeln der Rockmusik Südamerikas.
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Los Shakers – Los Shakers (1965)
Die Fattoruso-Brüder, die Gründer der Los Shakers, waren für Südamerika das, was Lennon/McCartney für die englische Popmusik waren: Denen haben wir zu verdanken, dass es dort heute Bands gibt, die in ihrer eigenen Sprache singen, die selbst komponieren und nicht nur covern. Eine ganz wichtige Band. Für mich auf jeden Fall die Initialzündung, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Das Tragische an dieser Band ist, dass sie wirklich verarscht wurden. Sie haben mit 17 einen Vertrag unterschrieben, waren vier Jahre auf Tournee, und haben dann jeder 500 Dollar bekommen. Darum sind die beiden Brüder ausgestiegen.
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Beat 4 – Juegos Prohibidos (1967)
Eine Band aus meiner Heimatstadt Valparaíso in Chile. Die haben sich an der Uni kennengelernt und gesagt: „Hey geil, wir können Instrumente spielen!“ Die haben ihre Instrumente teilweise selbst gebastelt, weil es in den Sechzigern in Südamerika beispielsweise keine Pickups gab, also haben sie die Dinger selbst gewickelt. Wie es bei den meisten Bands dieser Zeit so üblich war, haben sie erst mal Songs gecovert. Aber sie konnten kein Englisch, darum haben sie für ihre Coverversionen unheimlich liebevolle spanische Texte geschrieben. Natürlich alles illegal – Copyright, was ist das? Aber die Texte waren dann oft besser als das Original. Neben den Covers gab es auf diesem ersten Album schon jede Menge eigene Kompositionen, die so in die Richtung Mitte-60er-Beat gehen, viel Satzgesang, flockige Melodien, sehr poppig, alles im Zwei-Minuten-Format. Man kapiert die Stücke sofort, aber es gibt auch immer wieder unerwartete Wendungen. Die haben den Beat mitunter schon etwas anders aufgefasst. Eine tolle Band, von der ich sicher noch einige Songs in das Programm von ¡Más Shake! herüberretten werde.
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Aguaturbia – Aguaturbia (1969)
Eine andere tolle Band aus Chile. Die Band bestand aus dem Gitarristen und seiner Frau, Carlos und Denise. Das Cover war damals ein totaler Skandal, Nacktheit im katholischen Chile! Allein als Langhaariger wurdest du zu dieser Zeit häufig angefeindet und gerne auch mal zusammengeschlagen. Als diese Platte dann kam, dachten alle, das seien Orgien feiernde Drogenfreaks. Die Musik ist heute noch sehr zeitgemäß, wunderbare Loungemusik. „Erotica“ ist für mich das Stück dieser Band: ein bisschen Funk, ein bisschen Hendrix, und dieses Tropicana-Ding, eine Conga, viel Percussion – das, was Santana später zum Welterfolg geführt hat. Plötzlich hast du eine ganz andere Ebene, auf der Rockmusik stattfinden kann.
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Challenger’s – Challenger’s (1969)
Puerto Rico ist vor allem bekannt für Salsa und Cumbia, also Tropical-Style, weniger für Rockmusik. Eigentlich hatte ich mir das Album nur wegen des Covers gekauft, diese fleischigen Typen und der verträumte Sänger. Irgendwann habe ich sie mir dann mal angehört und gemerkt, dass die gar nicht mal schlecht sind. Und die Geschichte dahinter: ein südkoreanisches Label sucht sich Anfang der Nullerjahre ausgerechnet diese Band aus, um dieses Album in einer edlen Edition neu aufzulegen. Die Challanger’s versuchten eher, etwas hardrockmäßiger zu sein, aber anders. Manchmal gibt es dann doch seltsame Melodieführungen oder komische Rhythmen, wo man sich sagt: „Das hätten The Lovin‘ Spoonful aber anders gemacht.“ Na klar, die kommen ja auch von woanders her. Alles geht ein bisschen in Richtung „In-A-Gadda-Da-Vida“ oder Santana. Was mir gefällt, ist der sehr exzessive Einsatz der Orgel. Allerdings gibt es auf der Platte auch eine ganz grauenhafte Version von „Blowin‘ In The Wind“.
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Los Saicos – Wild Teen Punk From Peru 1965 (1999)
Peru hatte schon immer eine große Musikszene, schon seit den 50er-Jahren kamen sehr viele gute Instrumentalisten aus dem Land, besonders aus dem Tropicana-Bereich. 1964 kamen dann ein paar Typen auf die Idee, eine Band zu gründen, die heute unter vielen als erste Punkband der Welt gilt. Ihr großer Hit heißt „Demolición“. Er erinnert ein bisschen an die Monks oder „Surfin‘ Bird“ von den Trashmen. Heute ein echter Klassiker in Südamerika – wenn du „Demolición“ sagst, weiß jeder, wovon du redest. Die Saicos haben nur gut zwei Jahre bestanden, der Legende nach ist der Bandleader Erwin Flores später in die USA gegangen, um bei der NASA zu arbeiten. Es gab nie ein Album, nur 7-Inch-Singles. 1999 erschien dann diese gemasterte Compilation mit allen wichtigen Songs. Wirklich eine fantastische Band.
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We All Together – We All Together (1972)
Eine meiner absoluten Lieblingsbands aus Peru. Sie gingen aus der Band Lagonia hervor und man kann We All Together als Fortführung verstehen, allerdings mit sehr viel mehr Coverversionen – insbesondere von Paul McCartney, weil der Sänger ein Riesenfan ist. Allerdings klingt seine Stimme wie die von John Lennon, was die Sache natürlich ungemein interessant macht. Ich bin kein McCartney-Fan, aber es ist geil, Wings-Songs mit John Lennons Stimme zu hören. Es ist total bizarr. Ihr Kulthit heißt
„It’s A Sin To Go Away“, den wir auch mit ¡Más Shake! covern. Die Musik ist etwas balladesker, musikalischer, häufig sehr poppig, doch dann bricht die Band urplötzlich in totaler Psychedelia aus. Sie arbeiten sehr gerne mit exzessivem Orgelein-satz. Es heißt auch, sie waren die Einzigen, die in Peru eine Hammond B2 hatten. Andere Bands haben sich die dann geliehen.
Dendemann über HIPHOP
Der wortgewandteste Rapper Deutschlands gibt Props an selten gehörte Rhymes und Beats.
70
EXTRA PROLIFIC – Like It Should Be (1994)
Die Single „Brown Sugar“ hatte zwar Heavy Rotation bei „Yo! MTV Raps“, trotzdem ist die Platte irgendwie im Hieroglyphics-Wahnsinn untergegangen. Das Album bietet verlässlich guten Oakland-Rap mit verschachtelten Reimen und schlüssigen Beats mit den obligatorischen Kontrabass-Loops, aber nachdem Del the Funky Homosapien, Souls of Mischief und Casual so krass abgeliefert hatten, war irgendwie kein Platz mehr für Rapper Snupe und DJ/Producer Mike G. So oder so ähnlich muss sich U-God bei Wu-Tang gefühlt haben.
71
INI – Center Of Attention (1996)
Ein fast komplett von Pete Rock produziertes Album – und genau deshalb in dieser Liste – mit sehr, sehr entspannten Raps. Die Platte war damals im Safe des Labels gefangen und gilt als eine der meistgebootleggten im sogenannten Game. Veröffentlicht wurde nur die 12-Inch „Fakin‘ Jax“, die man guten Gewissens unter Classics einsortieren kann. 2003 fasste sich BBE ein Herz und packte das Album als Bonus auf eine Sammlung von Pete-Rock-Instrumentals … Yippie Yeah!!
72
BOOGIEMONSTERS – God Sound (1997)
Das erste Album hatte so viel Musik in den Beats, dass man das Rap-Talent der Boogiemonsters kaum bemerken konnte. Glücklicherweise verlor das Quartett zwei Mitglieder an die Kirche, was dem zweiten Werk mit dem, in diesem Zusammenhang bezeichnenden, Titel God Sound sehr gut getan hat. Auch die Produktion wurde aufs Wesentliche reduziert und höre da … zwei Ausnahme-MCs mit einem viel zu unterschätzten zweiten Album. Ich hätte mir immer ein Feature mit Organized Konfusion gewünscht, aber na ja …
73
ACEYALONE – A Book Of Human Language (1998)
Aceyalones Solodebüt All Balls Don’t Bounce ist so etwas wie der Klassiker der meistvergessenen Rap-Alben. Das liegt aber auch daran, dass die Platte bekannt genug ist, diesen Titel zu bekommen. Weniger bekannt, aber mindestens so großartig ist sein Nachfolgewerk A Book Of Human Language. Für mich persönlich stimmt hier einfach alles. Die jazzige, klanglich homogene, aber rhythmisch überraschende Produktion von Mumbles gibt Über-MC Aceyalone die perfekte Grundlage für seine Songkonzepte.
Und wenn er sich zum „Tick-Tack“ der alten Wanduhr seines Opas in Trance flowt, fällt mir wieder auf, wie stark mich diese Platte beeinflusst hat.
74
SQUARE ONE – Walk Of Life (2001)
Iman und Ali, zwei Perser in München, gründen eine Supergroup, bekommen nach ’ner Weile Zuwachs von DJ Edward Sizzerhand und MC Gianni Dolo, das Hamburger Label Showdown schnappt zu, ein paar gute Maxis, und dann das Wahnsinns-Album!!! Iman emanzipiert sich mehr als ausreichend von seinen Idolen, liefert Samplecollagen auf allerhöchstem Niveau, immer stilsicher bei den Drums, und Ali garniert diese respektvoll mit unglaublichen Raps. Technisch anspruchsvollste Reimkunst mit selten gehörter Eleganz.
75
MOABEAT – Dringlichkeit besteht immer (2004)
Es gibt bestimmt noch viele andere erwähnenswerte deutsche Rap-Alben, die nicht bekommen haben, was ihnen zusteht, aber ich wage mal zu behaupten, dass dieses das interessanteste ist. Ill Vibe, Yasha, Monk und Malo hatten mit ihrem 2004 erschienenen, ersten und einzigen Longplayer eigentlich alles richtig gemacht. Eine moderne, sehr ausgereifte und abwechslungsreiche Produktion, mit emsigen Raps, sehr gut gestreuten Gesangsparts und Themen, die interessieren. Die Band löste sich auf, sitzt aber noch regelmäßig in diversen Formationen zusammen, um Großes zu produzieren.
76
LITTLE BOOTS über
VARIOUS ARTISTS – Chicago Trax Volume 1 (1987)
Wenn man über Chicago House spricht, fällt es naturgemäß schwer, ein „verschollenes Album“ herauszupicken, weil die Szene primär von 12-Inches geprägt wurde. Ich nehme daher die definitive Compilation, auf der alle Architekten der frühen House Music vertreten sind: Mr. Fingers, Farley Keith, Marshall Jefferson. Die Maschinen-Beats, die elegischen Diva-Stimmen, der malmende Bass – alles, was Chicago House ausmacht, ist hier vertreten. Kommerziell erfolgreich waren diese Leute nicht, aber sie lieferten die Bausteine für die moderne Dance-Musik.
77
MICK JONES (The Clash) über
THE WINKIES – The Winkies (1975)
Eins meiner Lieblingsalben aller Zeiten. Es wurde von Guy Stevens produziert, der später dann auch London Calling produzierte. Ich kannte ihn damals schon länger – er hatte ja auch unsere ersten Demos aufgenommen, bevor wir dann bei CBS unterschrieben. Die Winkies waren eine vierköpfige Rockband, die kurz vor den Punk-Rock-Tagen existierten. Sie machten nur dieses eine Album, aber das ist fantastisch. Das Cover wurde von den Designern Hipgnosis gestaltet: Man sieht einen Ausschnitt der vier Gentlemen, wie sie in knallengen Badehosen posieren. Ich weiß bis heute nicht, was mir das sagen soll, aber seinerzeit wirkte es jedenfalls sehr mysteriös. Ich war damals großer Fan von Mott The Hoople und fuhr zu allen ihren Gigs – und stieß durch die Band auch auf die Winkies, weil sie einen ähnlichen, Stones-lastigen Vibe hatten. Das ist die Art von Musik, die ich damals mochte – und heute nicht minder. Warum sie nur ein einziges Album machten? Nun, manchmal läuft’s einfach nicht so, wie man will. Einige Leute haben einfach nicht den Durchsetzungswillen, ihren Schuh durchzuziehen. Ich weiß, dass ihr Sänger Philip Rambow einige Solo-Alben machte – und dass sie’s auch mal mit einer Reunion versuchten, aber irgendwie haute es halt nicht hin.
78
SHARON VAN ETTEN über
JOHN CALE – Fear (1974)
Einfach eine wunderschöne Platte. Jeder Song klingt anders, und die Produktion ist schlicht atemberaubend. Cale liebt es, zu experimentieren, schreibt aber gleichzeitig wahnsinnig runde Popsongs. Es ist schon seltsam, dass alle Leute eigentlich nur Paris 1919 von ihm kennen. Fear ist eine Spur aggressiver und hat einen größeren Spannungsbogen – vom Minimalistischen bis hin zu einer mächtigen Wall of Sound. Cales Stimme hat dabei eine dauerhafte Präsenz – etwas, das ich auf meinem neuen Album auch erreichen möchte. Sie erhebt sich nicht über die Musik, geht in ihr aber auch nicht verloren. Ein ziemlich perfektes Album.
79
BLAINE HARRISON (MYSTERY JETS) über
METRO TRINITY – Die Young EP (1987)
Diese Band existierte nur so kurz, dass sie es gerade einmal auf eine EP und eine Flexidisc brachte – die sie sich obendrein noch mit Inspiral Carpets teilen musste. Der aufgesetzte Cockney-Akzent, die spröden Gitarren und die metallischen Drums machen die EP aber trotzdem zu einem lebendigen Zeitdokument. Erol Alkan schickte mir „Slip Away“, weil er meinte, wir sollten den Song covern. Der Text könnte aus einem Ken-Loach-Film stammen: ein junges Mädchen, das in einem Casino arbeitet und erst spät nach Hause kommt, weil es ihrem betrunkenen Boyfriend aus dem Weg gehen will. Zwei Jungs von Metro Trinity gründeten später die Doves, während Sänger Johnny Male als Gitarrist bei Republica anheuerte – was immer noch besser ist, als wieder den alten Job im Supermarkt anzutreten.
80
GHOSTPOET über
NOISETTES – What’s The Time Mr Wolf? (2007)
Das erste Noisettes-Album wird völlig unterschätzt. Es ist erfreulich, dass sie inzwischen großen Erfolg haben, aber ihr Debüt ist ein klassisches englisches Indie-Album, das nie die angemessene Würdigung erfuhr. Die Platte ging gerade einmal bis auf Platz 75 der Charts, während das zweite Album immerhin bis auf Platz sieben kletterte. Sie machten schon damals keine halben Sachen, sondern zogen ihr Ding durch. Was sie natürlich noch immer tun, aber das war das erste Mal, dass ich auf sie aufmerksam wurde. Ich war tief beeindruckt von Shingai Shoniwas Gesang, von den Texten und Songstrukturen. Das Album hatte definitiv wesentlichen Einfluss auf meine Arbeit.
81
JAMES MERCER (THE SHINS) über
HENRY’S DRESS – Bust ‚Em Green (1996)
Es war die erste Band aus Albuquerque, die auf nationaler Ebene auf sich aufmerksam machte. Sie zogen allerdings relativ frühzeitig nach San Francisco – wovon die Szene in Albuquerque nicht gerade begeistert war. Alle drei waren Art-School-Kids, die sich zusammentaten und eine Noise-Pop-Band gründeten, auch wenn dieses Etikett ihnen nicht gerecht wird. Auf dem Album finden sich viele Elemente, die die 90s-Indie-Szene so aufregend machten: ein unglaublich verzerrter Bass, ein knackiger, aggressiver Sound, aber gleichzeitig auch diese putzige Pop-Sensibilität, einen Cure-Einfluss und eine Prise The Who & Mods. Selbst Shoegaze-Anklänge kann man hier hören. Sängerin Amy Linton war durch und durch anglophil, was sie mir ausnehmend sympathisch machte. In meinen Kreisen wurde dieses Album jedenfalls verehrt, weil es bewies, dass man auch in Albuquerque individuelle und kreative Musik machen konnte.
NOEL GALLAGHER über
82
EDGAR „JONES“ JONES – Soothing Music For Stray Cats (2005)
Das Album haute mich um, als es veröffentlicht wurde – und tut’s noch immer. Das ist der Sound, dem Lee Mavers (The La’s) schon seit Jahrzehnten vergeblich hinterherläuft. Ich werde mir Lees Adresse besorgen und es ihm zuschicken. Es ist eine gloriose Mischung aus Jazz, Blues und Voodoo-Schwurbel – und das Album mit dem besten Sound, das je in Liverpool produziert wurde. Das ist nicht meine persönliche Meinung, sondern eine unumstößliche Tatsache.
83
COTTON MATHER – Kon Tiki (1997)
Ich kaufte das Album der legendären Indie-Rocker aus Texas vor etwa zehn, elf Jahren, nur weil ich in einem kleinen Magazin eine Mini-Rezension gelesen hatte. Es hieß dort, Cotton Mather klängen so, als ob die Beatles Bob Dylan spielen würden. Und ausnahmsweise traf der Kritiker damit den Nagel auf den Kopf. Es gibt einen Song mit dem Titel „She‘ Only Cool“, den ich liebend gerne selbst geschrieben hätte. Und das ist noch nicht mal das Highlight des Albums.
84
SHACK – …The Corner Of Miles And Gil (2006)
Eigentlich kann man alles, was Shack je veröffentlicht haben, unter dem Label „Verlorene Klassiker“ verbuchen. Ich mag vorbelastet sein, weil ich …The Corner Of Miles And Gil auf meinem eigenen Label (Sour Mash – Anm. d. Red.) veröffentlicht habe, aber scheiß drauf: Das Album wird nie die Resonanz bekommen, die es verdient. Jeder Song ist unglaublich, musikalisch wie textlich. Sänger Mick Head ist ein Genie und sein Bruder John ein gottverdammter Zauberer an der Gitarre. Das Album ist übrigens noch immer erhältlich – ich habe es kistenweise unter meinem Bett stehen.
85
ANDREW WK über
CURRENT 93 – Where The Long Shadows Fall (Beforetheinmostlight) (1995)
Ich hörte diese Aufnahme zuerst 1999 – kurz nachdem ich nach New York gezogen war und Andrew WK wurde. Ich hatte ein Mädchen aus San Francisco kennengelernt, das mich regelmäßig zu ihren Bekannten schleppte. Einmal nahm sie mich mit zu diesem Typen in ein Apartment. Die beiden redeten, während ich kein Wort sagte. Nach einer Weile registrierte ich die Musik. Sie blies mich einfach um. In meinem Kopf drehte sich alles, Ungläubigkeit und Begeisterung eskalierten ins Unermessliche. Selbst meine schlechte Laune war plötzlich wie weggewischt. Ich brauchte fast zehn Jahre, um ein eigenes Exemplar dieser Platte aufzutreiben. Wenn etwas verborgen ist, bedeutet es zwangsläufig, dass man es jagen muss.
86
JORDAN GATESMITH (HOWLER) über
THE REPLACEMENTS – Hootenanny (1983)
Zunächst einmal muss ich natürlich meine verdammte Heimatstadt promoten: Minneapolis! Alle kennen Paul Westerbergs Band, aber ihr zweites Album ging immer etwas unter. Ich glaube, dass Hootenanny ein wichtiger Meilenstein zwischen Indie und Alternative Rock war. Die Replacements griffen die ganze Punk-Bewegung auf und komprimierten sie auf dieser wirklich bizarren Platte. Es klingt fast schon, als sei sie ein gottverdammter Witz: Am Anfang spielen alle Instrumente die scheußlichste Blues-Nummer, die man sich vorstellen kann – und am Ende steht da ein rausgerotzter Song namens „Treatment Bound“, der vielleicht mein Lieblingssong aller Zeiten ist. Es wimmelt nur so vor Sarkasmus und No-Hope-Idealen. Ich war 14 oder 15, als ich das zum ersten Mal hörte, und es war eine der letzten Replacements-Platten, die ich mir kaufte, aber diese war völlig anders. Es klang fast so, als seien sie bei den gesamten Aufnahmen sturzbesoffen gewesen. Wir hörten sie jedenfalls oft, als wir die ersten Songs für Howler schrieben. Es war wirklich ein Album, das die Punk-Rock-Idee aufgriff und in die Alternative-Welt transportierte. Und allein deshalb erscheint es mir als eminent wichtig.
87
BILLIE JOE ARMSTRONG (GREEN DAY) über
TOM WAITS – Rain Dogs (1985)
Das Album – es war bereits Waits‘ neuntes – erweckt all diese wunderbaren Charaktere zum Leben. Er erzählt großartige Geschichten, und ein Song geht dabei nahtlos in den nächsten über. Es ist fast schon so etwas wie ein Konzeptalbum über die Habenichtse dieser Welt. „Rain Dogs“ sind Hunde, die durch den Regen all die Gerüche verloren haben, die sie normalerweise brauchen, um sich zurechtzufinden – und Waits benutzt dieses Bild, um über die Obdachlosen in den Großstädten zu schreiben. Tom Waits ist ein echter Künstler – was sich auf diesem Album deutlicher niederschlägt als auf anderen. Ich hörte das Album zum ersten Mal vor sieben Jahren – und danach lief es immer, wenn ich im Auto fuhr. Es ist schon seltsam, aber heute erinnert es mich automatisch an diese Zeit – ich hörte damals auch viel The Pogues -, und weil es damals die Weihnachtszeit war, muss ich heute immer an Tom Waits denken, wenn ich einen Weihnachtsmann sehe.
88
STEPHIN MERRITT (THE MAGNETIC FIELDS) über
ALGEBRA SUICIDE – The Secret Like Crazy (1987)
Zusammengestellt aus zwei früheren EPs – eine Vorgehensweise, die man bei allen Alben anwenden sollte – ist dieses Album das beste der sechs, die Algebra Suicide zu ihren Lebzeiten veröffentlicht haben. Zumindest klingt es radikal anders als alles, was andere Menschen je veröffentlicht haben. Sie arbeiteten bereits als Ehepaar/Duo, lange bevor das allgemein chic wurde: Lydia Tomkiw trug griesgrämige Lyrik vor, ihr Mann Don Hedeker war für die Maschinen und verhallte Gitarren zuständig. Auch wenn sie 2007 starb, gehört das letzte Wort natürlich Lydia: „We don’t mind your great concern / But please send flowers instead.“
BERNHARD HORN (CALLEJON) über Metal
Der Gitarrist der senkrecht startenden Metalcore-Band aus dem Pott empfiehlt uns was aufs Maul
89
JANE – A Doorway To Elsewhere (1999)
Es ist 1999, ich bin 16, habe noch nichts von Liar, Caliban oder Heaven Shall Burn mitbekommen, und höre zum ersten Mal von Jane aus Duisburg. Das aus der VHS-Kassette von „Im Auftrag des Teufels“ rauskopierte Intro eiert ohne Ende, die Gitarren clipen, Bass hört man nur mit viel gutem Willen – alles scheißegal, die Songs sind aggressiv, negativ, auf die Fresse, und anders als alles, was es bis dahin in meinem Universum gab. Aus diesem Sound entwickelt sich das, was später Metalcore genannt wird, auch, wenn es in meinen Ohren leider nie wieder so düster und kompromisslos wurde.
90
THE CROWN – Deathrace King (2000)
Vier mal den Sänger gewechselt (u.a. At-The-Gates-Legende Tompa Lindberg!), zwischendurch aufgelöst, dann wiedervereinigt – was sie auch gemacht haben, nie wieder waren die Schweden von The Crown so gut wie auf diesem Album. Hier gibt es unfassbar schnellen, melodischen Death/Thrash Metal auf die Fresse, inklusive Hyperspeed-Gitarrensoli-Ausraster und rockigem Arschtritt. Trotz aller Geschwindigkeitsrekorde groovt es arschgenau auf den Punkt – der perfekte Soundtrack, um im Mustang mit 220 Sachen über eine Schlucht zu springen!
91
DARKNESS DYNAMITE – The Astonishing Fury Of Mankind (2009)
Auch, wenn man seine Tour-Buddies rezensiert, muss am Ende allein die Qualität der Musik ins Gewicht fallen. Hier punkten die Franzosen von Darkness Dynamite mit ihrem ausgefuchsten Gemisch aus groovendem Neo-Thrash-Metal und extrem coolen traditionellen Heavy-Metal-Gitarrenlinien. Die Vocals sind stellenweise melodisch, erreichen aber nie klebrige Harmonie-Gefilde, sondern kommen richtig schön rau, sodass man sich des Öfteren an Phil Anselmo von Pantera erinnert fühlt. Tritt Arsch, macht Bock, muss man haben!
92
ORCHID – Dance Tonight, Revolution Tomorrow! / Chaos Is Me (2000)
Zwei Alben, 21 Tracks, eine gute halbe Stunde Spielzeit insgesamt – hier gibt es aufs Maul. Und auch, wenn Orchid textliche Reminiszenzen an die Philosophen der Frankfurter Schule aufweisen und eigentlich als Begründer des Screamo gelten, sind sie in meinen Ohren doch die bessere Metalband. So ungestüm und verzweifelt, so hasserfüllt und kompromisslos, und dabei trotzdem hier und da melodisch, kommt das wütende Geschrei aus den Boxen, während dem Drummer nach jedem Song ein Snarefell-Wechsel garantiert ist.
93
PISSING RAZORS – Cast Down The Plague (1999)
Wenn die überhaupt noch mal Erwähnung finden, dann in einem Nebensatz, wenn eigentlich von Pantera die Rede ist. Trotz der unübersehbaren Parallelen – dem Riffing, der Heaviness, der texanischen Herkunft – blieb die Band zu Unrecht nur im Schatten der bösen Jungs um Phil Anselmo. Die roughen Vocals erinnern eher an die anderen großen Brüder von Soulfly respektive Sepultura, und auch etwas modernere Anklänge der Marke Fear Factory fanden ihren Weg in den Sound der Band. Wer die nötige Motivation für eine Runde Armdrücken mit ’nem Trucker sucht, ist hier richtig.
94
MILLE PETROZZA (KREATOR) über
Red Lorry Yellow Lorry – Blow (1989)
Das Album Blow von Red Lorry Yellow Lorry gehörte in den frühen Neunzigern zu meinen „Lieblingstraurigplatten“. Schon der Opener „Happy To See Me“ versetzt mich noch immer in diese einzigartige Spät-80er-Melancholie, die man heutzutage trotz aller Retro-Bemühungen nur noch selten findet. Die Texte des gesamten Albums tragen eine düstere Ironie in sich, die ich so noch bei keiner anderen Band gehört habe. Ein schöner Soundtrack zum finalen Suizid-Entschluss.
95
FRANK TURNER über
THE WEAKERTHANS – Reconstruction Site (2003)
The Weakerthans sind eine kanadische Indie-Rockband – auch wenn dieses Etikett vielleicht eher in die falsche Richtung weist. Ich mag alle ihre Platten, vor allem aber ihr drittes Album von 2003, auf dem Themen wie Verlust, Schmerz und Hoffnung im Vordergrund stehen. Ich bin absolut davon überzeugt, dass ihr Sänger John K. Samson der beste Texter ist, den es je gegeben hat. Die Art, wie er Sprache benutzt, ist unbeschreiblich gut. Er ist einfach anders – er hat diesen eigenartigen Country-Rock-Sound. Ich liebe ihn.
96
TOM FLEMING (WILD BEASTS) über
ANGELS OF LIGHT – Everything Is Good Here/ Please Come Home (2003)
Ich rühre immer die Werbetrommel für Michael Gira, der bei den Swans spielt und schon immer Legendenstatus besaß. Die Swans lösten sich 1998 auf – spielen inzwischen aber wieder zusammen -, woraufhin Gira die Angels Of Light ins Leben rief. Jeder Song, den er mit dieser Band aufnahm, ist ein Ereignis. Das erste Album, das ich mir zulegte, war Everything Is Good Here/Please Come Home. Es ist nicht gerade eine einfache Platte – nicht alle seine Alben sind so desolat -, aber diese hier ist besonders eindrucksvoll. Er schreibt seine Songs eigentlich ganz normal auf einer Akustik-Gitarre, aber diese ungewöhnlichen Sounds hier, diese Texte, die ganze Produktion … einfach ein wundervolles Album.
97
KATY B über
TEEDRA MOSES – Complex Simplicity (2004)
Teedra stand bei Lil Jons Label unter Vertrag. Sie macht R&B, aber niemand hat je von ihr gehört – es sei denn, er ist wirklich ein ausgemachter R&B-Aficionado. Teedra schreibt ihre eigenen Songs, die davon handeln, wie sie ihren Freund heiß macht und ihm Sachen sagt wie: „I’m gonna beat you up“. Ich sah sie einmal in London, und ihre pure Emotion war eine echte Inspiration für mich. Sie war eine Diva wie aus dem Bilderbuch, jedenfalls habe ich noch nie jemanden wie sie auf der Bühne erlebt. In gewisser Weise ist sie die ungeschliffene Version von Beyoncé – eine Frau mit Macken, die aber brutal ehrlich ist und zu ihren Fehlern steht.
98
ALEC EMPIRE (ATARI TEENAGE RIOT) über
US69 – Yesterday’s Folks (1969)
Eine magische Vinylscheibe, die unter uns Musikern wie eine geheime Schriftrolle stumm weitergegeben wird. Seit Generationen. Ich breche jetzt den Schwur. Buddah Records. Sie macht die Wahrheit sichtbar. Funk, geniale Synths wie auf „2069: A Spaced Oddity“. Aber Achtung! Nur auf Vinyl hören. Bis jetzt hat sie niemand gut genug digital umgewandelt. Was ihr im Netz findet, sind Fallen, um Dumme fernzuhalten. Wir hüten es eben.
99
BETH JEANS HOUGHTON über
FRANK ZAPPA & THE MOTHERS OF INVENTION –
Over-Nite Sensation (1973)
Das war die Platte, die mich auf Frank Zappa brachte. Ich war gerade mal zwölf Jahre alt. „Camarillo Brillo“ zählt bis zum heutigen Tag zu meinen Lieblingssongs – und die Bläser waren ein immenser Einfluss auf meine Musik. Mit Ausnahme seines Freundes/Widersachers Captain Beefheart hat wohl kein Musiker so viel Humor, musikalische Intelligenz und eine fast schon abnormale Selbstgewissheit in seine Musik investiert wie Zappa. In „Dinah-Moe Humm“ geht es um eine 40-Dollar-Wette zwischen Zappa und zwei Schwestern, dass er sie nicht zum Orgasmus bringen kann. Er erzählt diese Geschichte über ein Jazz-Funk-Fundament, das dann in einem Aretha-Franklin-ähnlichen Gospelchor mündet – was mich wiederum fast zum Orgasmus bringt. Angesichts der Tatsache, dass er ein so penibler und gestrenger Produzent war (er produzierte seine eigenen Platten, aber auch Alice Cooper, The GTO’s und Beefheart), bin ich immer wieder überrascht, dass seine Platten einen derart anarchischen Witz haben. Und es schockiert mich, dass er nicht unzählige Nachahmer gefunden hat, sondern der einzige Pionier seines eigenen Genres blieb. Er hatte das Talent, der Welt ein gigantisches „Fuck you“ unter die Nase zu reiben, ohne diese Wörter explizit aussprechen zu müssen.
100
KIM Gordon (SONIC YOUTH) über
THE GERMS – (GI) (1979)
Ich liebte den Sänger (Darby Crash – Anm. d. Red.) und seine Texte. Wir gingen auf dieselbe Highschool. Er war ein wirklich fertiger Typ, und er benahm sich oft reichlich blöde – weil er einfach die meiste Zeit total druff war. Das war in den späten 70er-Jahren. Punk interessierte mich am Anfang noch nicht so sehr. Als Punk in Los Angeles losging, war ich auf der Schule in Toronto. Für mich ähnelte das alles zu sehr den englischen Punk-Sachen, oft war es nur eine Imitation. Es gab in Los Angeles eine Menge Punks, weil es so ein faschistischer Ort ist. In New York, wo ich nach der Schule hinzog, existierte keine wirkliche Szene. Dort war nichts, was man zerstören wollte – alles war ohnehin schon komplett kaputt.
101
JAMES MURPHY (EX-LCD SOUNDSYSTEM) über
SUICIDE – Suicide (1980)
Ric Ocasek von den Cars hat das Album produziert. Dass er großer Fan von Suicide war, hört man seinen eigenen Sachen an: „Shoo Be Doo“ vom 1979er-Album Candy-O der Cars klingt wie das erste Suicide-Album. Ich finde, Ocasek hat Suicide mehrschichtiger gemacht. Dieses Album hier ist in vielerlei Hinsicht nicht so gut wie ihr monolithisches Debüt, was so einfach und so schön ist, aber es hat diesen irre guten Einsatz professioneller Synthesizer – und dennoch bewahrt es sich viel der für die Band typischen Schrägheit und Härte. „Diamonds, Fur Coat, Champagne“ ist einer meiner Lieblingssongs. Die ganze Platte ist ziemlich gut, aber der Song ist der Einstieg. Der Song ist schief und drückt ziemlich, ist aber nicht so unheimlich wie Suicide sonst – und dadurch vielleicht sogar noch unheimlicher als der Rest. Das Album ist bestimmt nicht das erste, das dir einfällt, wenn du an Suicide denkst, aber es ist schon bemerkenswert – allein schon, weil es eine Ahnung von den späteren Solokarrieren der zwei Bandmitglieder gibt. Die motorischen Beats und der Lärm sind immer noch da, aber anstatt sich nur auf Orgel und Beatbox zu verlassen, setzt es auf Synthesizer und Stufen. Ich habe mir die Platte gekauft, weil ich Suicide-Fan war. Sie war ziemlich schwer zu finden, ich musste lange suchen, bis ich sie endlich mein Eigen nennen konnte. Zunächst wusste ich dann gar nicht, ob sie mir überhaupt gefällt, aber über die vergangenen zwanzig Jahre ist sie offensichtlich gewachsen. Als ich die Band zum ersten Mal hörte, platzte mir der Kopf. Suicide klangen wie niemand sonst. Bands, die eine sehr geradlinige Vorstellung ihrer Musik haben, schüchtern mich immer ein, aber sie inspirieren mich gleichermaßen. Bei Suicide scheint es so, als hätten sie einfach einmal eine Entscheidung gefällt und wären dabei geblieben. Suicide hatten großen Einfluss auf meine Musik – allein, was den Einsatz von Gesang als Perkussionsinstrument anbelangt. Sie sind ein perfektes Beispiel dafür, wie man das richtig macht. Michael Jackson hat das etwa auf „Smooth Criminal“ auch gemacht, aber Suicide benutzten die Plosive – wenn du Luftstrom aus deinem Mund anhältst und dann plötzlich loslässt – ganz anders. Einfachheit, Blödheit und Wiederholung, das sind Eckpfeiler meines Musikschaffens.